"Die Nummer, einmal eintätowiert, wurde in ein besonderes Register eingetragen, in Übereinstimmung mit den Personalien des Häftlings. Von diesem Augenblick verschwanden wir als menschliche Wesen, wurden Nummern, Stücke für die Vernichtungsmaschinerie des Reichs. Mir wurde die Nummer A-24020 eintätowiert. Sie verunstaltet noch heute meinen Unterarm." Mit diesen Worten schilderte die am 19. September des Vorjahres im Alter von 86 Jahren verstorbene Auschwitz-Überlebende Elisa Springer in ihrem 1997 erschienenen Buch "Das Schweigen der Lebenden" die Aufnahme in Auschwitz.
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Die aus Wien stammende Elisa Springer, die nach ihrer Befreiung bis zu ihrem Tod in Italien lebte, konnte fünfzig Jahre lang nicht über ihre Erfahrungen, die sie in Auschwitz und später in Bergen-Belsen und Theresienstadt gemacht hat, sprechen. Erst das gemeinsam mit ihrem Sohn Silvio geschriebene Buch bedeutete Befreiung für sie und sie nahm auch das Pflaster ab, unter dem sie jahrzehntelang ihre Auschwitz-Nummer versteckt hatte.
Elisa Springer schildert in ihrem Buch, wie sie bei der Selektion, die der berüchtigte Dr. Josef Mengele vornahm, von einer Mutter und ihren beiden Kindern getrennt wurde, mit denen sie sich auf der Fahrt im Viehwaggon angefreundet hatte. Ein Häftling, warnte sie davor, auf die andere Seite zu gehen, auf der die Mütter mit ihren Kindern standen.
Der heute 83-jährige gebürtige Wiener Otto Delikat war einer jener Häftlinge, die mit den neu Angekommenen in Berührung kamen. "Obwohl es uns bei Todesstrafe streng verboten war, mit den Angekommenen zu sprechen, versuchten wir immer, junge Mütter dazu zu bringen, ihre kleinen Kinder mit den Großeltern auf die Lastwagen steigen zu lassen und selbst zurückzubleiben. Wir wussten, dass die Lastwagen mit den Alten und den Kindern direkt zu den Gaskammern fuhren und wir wussten, dass die Mütter ohne Kinder eine kleine Chance zum Überleben hatten." Otto Delikat schildert auch, wie sein Kommando einmal unter all dem Gepäck ein totes Baby gefunden hat. "Wir wussten, wenn wir das meldeten, würde das Kleinkind wie alle anderen Leichen im Krematorium landen. Wir aber wollten ihm ein wirkliches Begräbnis geben und wir begruben es. Wenn man uns dabei erwischt hätte, hätte es uns das Leben kosten können". Otto Delikat schildert auch, wie die Mitglieder des Kanada-Kommandos - Kanada hieß jener vom Lager abgegrenzte Teil von Auschwitz, wo der Besitz der Ermordeten für den Abtransport ins Reich sortiert wurde -, in dem er arbeitete, Wertsachen der Vergasten dem Zugriff der SS entzogen und durch Schmuggel Lebensmittel von polnischen Zivilisten dafür bekamen, die dem einen oder anderen Häftling in Auschwitz das Leben retteten.
Es waren diese kleinen Akte des Widerstands, die unter den Auschwitzer Verhältnissen eigentlich Heldentaten waren, die manchem Häftling das bisschen Kraft, das er zum Überleben brauchte, zurückgaben, inmitten der Hölle oder dem "anus mundi", wie ein SS-Arzt einmal das größte Vernichtungslager der Nazis bezeichnet hatte.
"Man konnte im Lager, wenn man nicht gerade durch seinen Beruf, durch besondere Schönheit oder durch andere günstige Umstände privilegiert war, eigentlich nur überleben, wenn man sich ununterbrochen das Gegenteil von
,korrekt' verhielt. Wenn man alles tat, was im zivilen Leben als kriminell und übel gegolten hätte: Stehlen, Lügen, Betrügen, immer und überall seine Ellbogen gebrauchen", schrieb die Ärztin Ella Lingens in ihren Erinnerungen "Gefangene der Angst", die unmittelbar nach ihrer Befreiung entstanden sind.
Franz Danimann, Blockschreiber im Häftlingskrankenbau, war einer der rund 7.500 Häftlinge, die bei der Evakuierung von Auschwitz zurückgeblieben waren. Mit einem kleinen Häuflein von Österreichern - unter ihnen der Arzt Otto Wolken, der Künstler Heinrich Sussman und der spätere langjährige Vorsitzende der Lagergemeinschaft Auschwitz, Kurt Hacker, - erlebte er die Befreiung in Auschwitz am 27. Jänner 1945. "Mit Zustimmung des sowjetischen Betreuungsoffiziers Kunin richteten wir in Block 8 ein eigenes Österreicherzimmer ein, von dessen Stirnwand die rot-weiß-rote Fahne und die Losung ,Für ein freies Österreich' grüßte, drei Monate bevor Österreich tatsächlich befreit war", erinnert sich Danimann. Die befreiten Österreicher boten auch ihre Hilfe bei der Suche von Dokumenten und Unterlagen über die Verbrechen des NS-Regimes in Auschwitz an und trugen einen Teil jenes Materials zusammen, mit dem später die NS-Verbrecher überführt werden konnten.
Die letzten zehn Tage von Auschwitz
Einer der prominentesten Überlebenden, die am 27. Jänner 1945 in Auschwitz befreit wurden, war der italienische Chemiker Primo Levi, von dem eines der frühesten und beeindruckendsten literarischen Zeugnisse über Auschwitz stammt, das Buch "Ist das ein Mensch?". Im letzten Kapitel "Zehn Tage" schildert er die Zeit zwischen Evakuierung des Lagers und der Ankunft der ersten sowjetischen Soldaten, als aus den Nummern wieder Menschen wurden: "Als das zerbrochene Fenster instand gesetzt war und der Ofen schon Wärme lieferte, schien es, als löste sich etwas in jedem von uns; und da geschah es, dass Towarowski (ein Pole aus Frankreich, dreiundzwanzig Jahre alt, typhuskrank) den anderen Kranken vorschlug, sie sollten uns dreien, die wir arbeiteten, jeder eine Scheibe Brot geben; das wurde angenommen. Auch nur einen Tag vorher wäre das undenkbar gewesen. Das Gesetz des Lagers lautete: ,Iss dein Brot, und wenn du kannst, auch das deines Nächsten'. Dies bedeutete nun, dass wirklich das Lager gestorben war. Es war die erste menschliche Geste. Ich glaube, dass man diesen Augenblick als den Anfang jener Verwandlung bezeichnen kann, die uns, die wir nicht starben, von Häftlingen nach und nach wieder zu Menschen machte."