Kindesmisshandlung hat auch bei Vögeln oft eine Vorgeschichte.
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Von wegen Vogelparadies: Zumindest für den Nachwuchs der Nazca-Tölpel (Sula granti) ist eine Kindheit auf den Galapagos-Inseln oft alles andere als ein Zuckerschlecken. Schuld daran sind die Schlägertypen der eigenen Art. So mancher erwachsene Brutalo macht den weißen Federknäueln das Leben zur Hölle. Diese Attacken älterer Tölpel aber bleiben für die Opfer nicht ohne Folgen, haben US-amerikanische Biologen um Dave Anderson von der Wake Forest University in Winston-Salem herausgefunden.
Aus verprügelten Küken werden oft ihrerseits prügelnde Erwachsene. Über diese generationenübergreifende Gewaltspirale, die bisher nur bei Menschen bekannt war, berichten die Forscher in der Oktober-Ausgabe des Ornithologen-Fachblatts "The Auk".
Nazca-Tölpel gehören zu den beliebtesten Fotomodellen auf den Galapagos-Inseln. Für diesen Job qualifizieren sich die zwischen 80 und gut 90 Zentimeter großen Seevögel nicht nur mit ihrem schneeweißen Gefieder, den dunklen Flügelkanten und Schwanzfedern und der dekorativen schwarzen Maske in ihrem Gesicht. Sie bieten auch immer wieder ein unterhaltsames Schauspiel, wenn sie sich auf der Jagd nach Fischen kopfüber in die Fluten des Pazifiks stürzen. Das sieht zwar halsbrecherisch aus. Doch die Herausforderungen des Lebens beginnen lange vor dem ersten Fischzug.
Einen älteren Bruder oder eine ältere Schwester zu haben, bedeutet zum Beispiel schon das Todesurteil. Nazca-Tölpel legen im Abstand von ein paar Tagen zwei Eier, die sie 40 Tage lang ausbrüten. Doch nur das zuerst geschlüpfte Küken hat Überlebenschancen. Der Nachzügler wird von der Konkurrenz aus dem Nest gestoßen. Er stirbt an Hunger, Kälte oder Wunden.
Doch auch das überlebende Jungtier hat einiges auszuhalten. Solange es noch sehr klein ist, wird es zwar von Vater oder Mutter beschützt. Später aber verlassen die Eltern die Brutkolonie für immer längere Zeiträume, um im Meer zu fischen. Und dann kann es gefährlich werden. "Wir waren überrascht über das große Interesse, das viele Altvögel an fremden Jungtieren haben", erinnert sich Dave Anderson an die ersten Beobachtungen seines Teams auf der Galapagos-Insel Española. Vor allem Tölpel, die nicht selbst mit Brüten beschäftigt sind, patrouillieren regelrecht durch die Kolonie und suchen nach unbewachtem Nachwuchs. Manchmal stellen sie sich nur neben die fremden Küken, putzen sie oder bieten sogar Kiesel und Federn als Geschenke an. "Oft genug behandeln sie die Kleinen aber wirklich roh", sagt Dave Anderson. Da wird dann gehackt und gebissen, bis Blut fließt. Manchmal kommt es sogar zu sexuellen Übergriffen.
Über drei Brutsaisonen hinweg haben die Forscher dokumentiert, welche Küken solchen Misshandlungen ausgesetzt waren und welche nicht. Der weitere Lebensweg der Heranwachsenden ließ sich dann relativ leicht verfolgen. Denn wenn Nazca-Tölpel mit drei oder vier Jahren geschlechtsreif werden, kehren sie in die gleiche Kolonie zurück, in der sie selbst geschlüpft sind. Die Biologen brauchten den Vögeln nur einen markierten Ring ums Bein zu legen, um sie wiedererkennen zu können. Und siehe da: "Anhand ihrer Misshandlungsgeschichte konnten wir bei den einzelnen Tieren ziemlich sicher vorhersagen, wie sie sich als Erwachsene verhalten würden", berichtet Dave Anderson. Die Opfer wurden selbst zu Tätern. Die behütet Aufgewachsenen eher nicht.
Hormone machen Schläger
Die Biologen haben auch schon eine Idee, woran das liegen könnte. Dave Andersons Mitarbeiterin Jacquelyn Grace hat untersucht, welche körperlichen Folgen die Gewaltexzesse für einen kleinen Nazca-Tölpel haben. Während eines Angriffs steigt die Konzentration des Stresshormons Corticosteron im Körper des Opfers demnach um etwa das Fünffache an. Wenn ein Küken immer wieder einen solchen hormonellen Ausnahmezustand erlebt, könnte das nach Ansicht der Forscher auch sein Verhalten in späteren Jahren prägen. Damit wäre dann der Grundstein für die eigene Schlägerkarriere gelegt.
"Ein so komplexes Phänomen hätten viele wohl nur beim Menschen erwartet", resümiert Jacquelyn Grace. Umso faszinierender findet sie es, dass sich die Spirale der Gewalt auch in Tölpel-Kreisen dreht: "Vielleicht stecken die gleichen physiologischen Mechanismen dahinter." Die Forscher hoffen, anhand des Vogelverhaltens neue Erkenntnisse über Kindesmisshandlungen gewinnen zu können.