Der langjährige französische Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand war einer der zwielichtigsten, zugleich aber auch einer der intelligentesten Politiker des Wiener Kongresses.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wenn von Talleyrand die Rede ist, werden hauptsächlich negative Züge und Taten dieser bedeutenden historischen Figur präsentiert. Wie kaum ein anderer wird Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord, Fürst von Bénévent, Exbischof, liberaler Aristokrat, begnadeter Diplomat und schillernde Figur des Wiener Kongresses, von der Nachwelt kritisch beäugt. Dieser "hinkende Teufel" - so wurde er in Anlehnung an den Roman "Le diable boiteux" von Le Sage genannt (zum einen aufgrund seiner Fußdeformation, zum anderen wegen seiner, von Gegnern gefürchteten, "teuflischen" Wendigkeit) - scheint keinem von den Herren, denen er gedient hat, ewige Treue geschworen zu haben.
Als Bischof hat er zur Demontage der kirchlichen Macht beigetragen, als Lebenskünstler hat er gefährliche Zeiten in der Öffentlichkeit überlebt, ist der Guillo- tine entkommen. Als Opportunist, korrupter und geldgieriger Zyniker ist er in die Geschichtsbücher eingegangen, ein Ruf, der sich auch an dem häufig verwendetem Zitat Napoleons ablesen lässt, in dem Talleyrand als ein "Haufen Scheiße in Seidenstrümpfen" bezeichnet wird. Das Bild Talleyrands ist kein eindeutiges, sicher ist aber, dass man aus den verfügbaren Quellen auch eine andere als die gängige Darstellung dieser ungewöhnlichen Erscheinung wagen kann.
Geistlicher Spekulant
Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord wird am 2. Februar 1754 als Sohn eines alten französischen Adelsgeschlechts hohen Ranges geboren, womit ihm eine Karriere im Militär, oder als Würdenträger der Kirche vorbestimmt ist. Aufgrund einer unbehandelten Verletzung in der Kindheit leidet er sein Leben lang an einem sogenannten "Pes varus" (umgangssprachlich auch als Klumpfuß bezeichnet), weshalb er sich nur mit Hilfe eines Stocks fortbewegen kann.
Als er mit 34 Jahren, am Vorabend der Revolution (1788), zum Bischof von Autun ernannt wird, ist er ein belesener Mann (die philosophischen Werke der Aufklärer sind ihm vertraut), höchstwahrscheinlich agnostisch. Ein Fortschrittsmensch im Geist der Aufklärung, liberaler Aristokrat. Eine seiner Leidenschaften ist das Glücksspiel, das er mit ebenso großem Geschick betreibt wie die Finanzspekulationen - und die Liebesaffären, die den Geistlichen schon früh in Verruf bringen. 1789 ist er Vertreter des Klerus bei den Generalständen, später Präsident der Nationalversammlung. Was ihn unter anderem zu diesen Zeiten auszeichnet und ihm den Dauerhass der Kirche einbringt, ist sein Engagement für die Zivilverfassung des Klerus, und vor allem für die Verstaatlichung der Kirchengüter, was für Rom und die katholische Kirche Hochverrat bedeutet. 1791 tritt er schließlich als Bischof zurück.
In der ersten Phase der Revolution entfaltet der Aufklärer eine rege Aktivität. Er ist der Überzeugung, dass Analphabetismus ein Hindernis für das angestrebte Glück und die Mündigkeit des Menschen darstellt, zudem ein offenes Tor für den Aberglauben bedeutet. Für die Nationalversammlung verfasst er daher ein umfassendes Bildungsprojekt, das sehr modern anmutet. Er ist einer der ersten, der sich vehement für eine allgemeine Schule einsetzt, das heißt eine für alle Altersgruppen und "pour l’un et l’autre sexe", also für beide Geschlechter, wenn er auch bei der Rolle der Frauen, beispielsweise in der Politik, konservative Ansichten vertritt.
Später, in der extremistischen Phase der Revolution, die in einem Blutbad endet, spürt er rechtzeitig, dass selbst sein Leben als Revolutionsmitbegründer nicht sicher ist. In weiser Voraussicht lässt er sich noch von Danton auf diplomatische Mission nach London schicken, sodass er später nicht als flüchtiger Verräter und Gegenrevolutionär gelten kann. Es folgt ein englisches und amerikanisches Exil: Vier Jahre reich an Erfahrung, in denen er jedoch oft auf Geschäfte und Hilfe seiner Freunde angewiesen ist.
Vielleicht stammt aus dieser Zeit der "Entbehrung" seine Überzeugung, dass Geld eines der wichtigsten Bestandteile der Lebenskunst darstelle. "Man darf nie ein armer Teufel sein. Ich, sehen Sie, ich war immer reich", wird er einem Freund später zuflüstern. Auch diesen Satz gilt es mit Esprit zu betrachten; er ist mehr als nur ein Ausdruck von Zynismus und Überheblichkeit. Der Überlebenskünstler, der diesen Satz ausspricht, hat gerade die turbulentesten Zeiten hinter sich und musste im Londoner Exil sein Hab und Gut, vor allem seine geliebte Bibliothek, veräußern, um sich durchzuschlagen, während in Paris seine übrigen Besitztümer versteigert wurden.
Geld und Beziehungen
Die Eindrücke, die er aus der amerikanischen Lebensart gewinnt, und die für seine spätere politische Karriere von Wichtigkeit sein werden, sind nicht wie etwa bei Tocqueville (dem Autor einer ausführlichen Studie der amerikanischen Demokratie) politischer Natur, sondern eher ökonomischer: Zollsystem, wirtschaftliche Beziehungen mit anderen Ländern und Geschäftigkeit prägen sein Bild der jungen Vereinigten Staaten.
Während dieser Zeit, die er zwar mit Humor zu nehmen scheint, die aber nicht frei von Verzweiflungsmomenten ist, führt er rege Briefwechsel mit zum Teil einflussreichen Freundinnen, wie etwa Madame de Staël, Tochter des Bankiers Necker, ehemaliger Finanzminister des Königs.
Diese engen Beziehungen und Freundschaften zu Frauen erweisen sich als Konstante im Leben Talleyrands, die er auch politisch zu nützen versteht. In Schlüsselmomenten ist er oft auf die Macht der Frauen angewiesen. So etwa, als Madame de Staël nicht nur seine von ihm ersehnte Rückkehr nach Europa im Sommer 1796 erwirkt, sondern ihm auch einige Monate später bei der neuen, die Zeit des Terrors ablösenden Direktoriumsregierung den Posten als Außenminister Frankreichs verschafft.
Als er die Nachricht seiner Nominierung zum Außenminister erhält, jubelt der Mittvierziger Talleyrand euphorisch seinen Freunden zu: "Wir werden ein immenses Vermögen machen." Nun entsteht das talleyrandsche System, eine Mischung aus genialem diplomatischem Wirken und persönlicher Bereicherung. Tatsächlich bringt er es, innerhalb der folgenden zwei Jahre, auf die unglaubliche Summe von 13 Millionen Francs Verdienst, selbstverständlich zusätzlich zu seinem (auch nicht niedrigen) Ministergehalt. Ein Vermögen, das er aus einem quasi institutionellen Bakschisch-System schöpft, einem "Korruptionssystem", bei dem alle Parteien gleichermaßen zum Handkuss kommen.
Talleyrand lässt sich jedoch, um es leicht ironisch zu formulieren, von diesem "Schmiergeld" nicht beeinflussen: Er lässt alle zahlen, bevorzugt aber keinen.
Viele, darunter auch Napoleon, beteuern immer wieder, dass Talleyrand bei dieser Art der Geldbeschaffung etwas übertreibe, doch sie müssen achselzuckend zugeben: "Wir brauchen ihn". Zwei der herausragenden Merkmale seiner Diplomatie scheinen Zeitbeherrschung und Sprachskepsis zu sein. Das Motto seines Ministeriums, "Bloß keinen Eifer!", bringt ihm das Vorurteil ein, faul zu sein. Er meint damit jedoch, dass alle Entschlüsse wohl überlegt werden sollten.
Kunst der Diplomatie
Diplomatische Katastrophen können durch bewusste Verzögerungsstrategien vermieden werden, wenn beispielsweise ein eifriger Minister seine Eilpost einige Stunden oder Tage nach dem Verfassen ebenso dringend wieder aufhalten will, der Brief jedoch ohnehin nicht abgeschickt wurde. Seine Hartnäckigkeit in Verhandlungen hat er folgendermaßen beschrieben: "Außenpolitik ist die Kunst, einem anderen so lange auf den Zehen zu stehen, bis dieser sich entschuldigt."
Die andere Facette seiner diplomatischen Künste ist sein Umgang mit der Sprache, der von einer Sprachskepsis geprägt ist: "Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen".
Zur Zeit des Direktoriums lernt Talleyrand den jungen Napoleon Bonaparte kennen, verehrt und unterstützt ihn, auch finanziell. Später, als Napoleon sein Empire gründet, steht ihm Talleyrand als Mentor zur Seite und erklärt ihm, wie man eine neue Adelskultur etabliert mit Prunk, Hof und symbolischem Gefüge. Er dient diesem auch als Außenminister des Empire bis zu jenem Punkt, an dem das hegemoniale Machtstreben des Kaisers seinen eigenen Friedensvorstellungen allzu drastisch widerspricht. Denn Talleyrand ist im Grunde bestrebt, die Gleichgewichte der Mächte zu etablieren, um den Frieden in Europa zu wahren. Napoleon hingegen will ein Alexander sein, ein Weltherrscher. Talleyrand begleitet diese Herrschaft Frankreichs deshalb nur, solange es noch mit dem Frieden in Europa vereinbar ist.
Die Trennung erfolgt peu à peu nach Austerlitz. Der Europäer und Friedensmensch Talleyrand zeigt sich, nach der Niederlage Napo-leons, beim Wiener Kongress bemüht, die Wiederkehr Frankreichs als gleichberechtigte Macht unter den Großmächten zu ermöglichen, indem er im Streben nach einem "Gleichgewicht der Kräfte" die verschiedenen Parteien geschickt von seinem Credo überzeugt. Sein Konzept des Legitimitätsprinzips gilt bis heute als eine grundlegende Weiterentwicklung des Völkerrechts.
Nach 1840, der Rückkehr der Bourbonen an die Macht (Louis XVIII), erst nach der Niederlage Napoleons erscheint Talleyrand (als Außenminister) eher unverzichtbar als beliebt.
Politik des Machbaren
Nach 1840 wirft er den Bourbonen, denen er wieder zur Macht verholfen hat, vor, "nichts vergessen, aber auch nichts dazugelernt" zu haben. Auch wenn er selbst seinem süßen 18. Jahrhundert nachtrauert, sieht er keinen Sinn in dem Versuch der Bourbonen, die unwiederbringlich verlorenen Zustände des Ancien Régime wieder herstellen zu wollen. Sein beim Wiener Kongress eingesetztes Legitimitätsprinzip ist nicht als Unterstützung dieses Strebens zu verstehen. Der Aufklärer Talleyrand will damit keineswegs die Legitimität des seit der Revolution aufkommenden Nationenbewusstseins unterminieren. Beim Wiener Kongress ist dem Pragmatiker bewusst, dass er nur die Karten des Machbaren und Möglichen spielen kann, die Priorität ist die Rückkehr Frankreichs ins Konzert der Nationen.
Politischer Relativismus prägt sein Geschichtsbewusstsein: "Wer lange genug gelebt hat, hat alles gesehen - und auch das Gegenteil von allem."
Seinen Lebensabend verbringt Talleyrand zurückgezogen, seine Memoiren schreibend (in denen er sich im Bezug auf Fakten zuweilen Freiheiten nimmt), während seine letzten Freunde sterben. Bei aller Offenheit und Zukunftsorientiertheit ("Mein Prinzip ist, kein Prinzip zu haben"), blieb er dennoch stets der Zeit der Aufklärung, dem glücklichen 18. Jahrhundert, verbunden: "Wer das Ancien Régime nicht kannte, wird niemals wissen können, wie süß das Leben sein kann."
Manuel Chemineau, geboren in Paris, lebt in Wien. Er ist Kulturhistoriker, Literaturwissenschafter und Übersetzer und unterrichtet an der Universität Wien.