Morde und gezielte Unterdrückung von Frauen im Namen des Islam müssen mit allen Mitteln bekämpft werden. Von Muslimen zu verlangen, sich von Bluttaten islamistischer Attentäter zu distanzieren, ist allerdings absurd.
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Wissen Sie, dass ich sehr, sehr müde bin? Ich bin es leid und habe es unendlich satt. Ich kann diesen Hass, dieses Blutvergießen, dieses Leid nicht mehr sehen. Ich kann diese morschen, von Motten zerfressenen politischen Hohlphrasen nach jedem Terroranschlag nicht mehr hören. Ich kann dieses europäische Franchise des "Behördenversagens" nicht mehr ertragen. Paris - Brüssel - Berlin - Nizza - Wien: Anschlag - Schock - Solidarisierung - Trauer - "Wir lassen uns nicht spalten"-Geplapper - "Behördenversagen"-Vorwürfe - Islam-Diskussionen in Talkshows. Das ist unser Terrorismusritual, in dem es sich alle Beteiligten entsetzlich gemütlich eingerichtet haben, ohne fundiert und grundsätzlich zu analysieren, warum wir in dieser Endlosschleife des Horrors gefangen sind.
Ich finde, es ist Zeit. Dazu will ich Sie auf ein gewagtes Gedankenexperiment mitnehmen. Ich mache gerne Gedankenexperimente. Sie helfen einem, die Welt besser zu verstehen. Nehmen wir einmal Folgendes an: Ein fanatischer Transvestit packt sich einen Gürtel scharfer Munition um seine wohlgeformte Wespentaille, schnappt sich seine mit Glitzer-Totenköpfen verzierte Schnellfeuerwaffe, geht in ein Buchgeschäft und schießt wild um sich. Er will so viele Menschen wie möglich töten, weil sie vermeintlich Bücher von Joanne K. Rowling, der Autorin der berühmten "Harry Potter"-Geschichten, kaufen und lesen. Warum? Weil sich Rowling kritisch über verschiedene Aspekte von Transgender geäußert hat. Würde man nun von der LGBTQI-Community verlangen, sich von so einer Tat zu distanzieren?
Rowling hat den schlechten Einfluss auf die Jugend kritisiert und dass Teenager von Ärzten zu schnell dahin gedrängt werden, eine Geschlechtsumwandlung durchzuführen, obwohl das ihr ganzes Leben unwiederbringlich zerstören könnte, weil sie ihre Fruchtbarkeit verlieren. Und sie hat darauf hingewiesen, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass Männer sich gerne einmal als Frau ausgeben, um in Frauenbereiche zu kommen, um ihre Missbrauchsfantasien auszuleben. Sie wurde massiv kritisiert, sie wurde öffentlich verbal gelyncht für ihre Aussagen.
In einer Demokratiedarf jeder sagen, was er will
Sie werden jetzt denken: "Was soll uns das jetzt sagen? Da wird doch wohl nicht die Aufregung um Transgender-kritischen Aussagen Rowlings mit islamistischem Terror im Zuge der Mohammed-Karikaturen verglichen?!" Doch, das tue ich - und ich setze sogar noch eins drauf. Stellen Sie sich vor, ich sage: "Die LGBTQI-Bewegung ist überempfindlich, versucht Sprechverbote zu erteilen, hat zu viel Macht in der öffentlichen Debatte und vernichtet Karrieren darüber. Die LGBTQI-Bewegung übertreibt ihre Sache maßlos und das alles wegen einer lächerlich kleinen Minderheit, deren Rechte mich überhaupt nicht jucken, weil es größere Probleme auf der Welt gibt."
Ich spüre förmlich hier durch das Papier, dass Sie Ihren Augen nicht trauen. Sie können es nicht fassen so etwas zu lesen. Wenn Sie eine Person aus der LGBTQI-Bewegung sind, werden sie jetzt gerade extrem wütend werden. Sie finden das provokant, ignorant, diskriminierend und unerhört und meinen, solche Aussagen, dürfe man in der heutigen Zeit, in unserer aufgeklärten Welt nicht machen.
Dann würde ich zu Ihnen sagen: "Jetzt haben Sie sich nicht so. Ich finde, das muss gesagt werden. Wir leben in einer Demokratie, und da darf jeder sagen, was er will. Das dürfen wir uns nicht von irgendwelchen LGBTQI-Fanatikern nehmen lassen. Es steht außer Frage, dass wir so etwas wie die LGBTQI-Bewegung kritisieren oder uns darüber lustig machen. Darüber muss man nicht ‚debattieren‘, der Spott über solche Bewegungen ist uns ‚heilig‘, und das Recht auf freie Meinungsäußerung haben wir uns lange erkämpft. Geschützt ist nur das freie Ausleben der jeweiligen sexuellen Orientierung, aber nicht die Gefühle von irgendwelchen besonders politisch Korrekten."
Der österreichische Journalist Florian Klenk hat das in Bezug auf das Attentat in Nizza hinsichtlich Muslime geschrieben. Nehmen wir jetzt weiters an, Sie wären eine Transgender-Person, und ich würde zu Ihnen sagen: "Sie sind eine lächerliche Witzfigur, aber wenn ich Sie so bezeichne, müssen Sie das aushalten, wenn wir darüber diskutieren wollen, ob die LGBTQI-Bewegung nun den Hang zu gewalttätigem Radikalismus hat oder nicht." Würden Sie sich gerne mit jemandem wie mir hinsetzen, um darüber zu reden, wie wir unsere Probleme lösen?
"Aber das ist doch nicht zu vergleichen", werden Sie jetzt sagen. "Dem Islam liegt eine jahrhundertelange patriarchale Tradition zu Grunde, mit Tendenz zur Gewalttätigkeit, und es sind keine Einzelfälle mehr. Terroristische Attentate passieren sehr oft. Davon kann ja wohl bei der LGBTQI-Community oder dem linksliberalen Spektrum der Gesellschaft wirklich nicht die Rede sein."
Dann gebe ich Ihnen noch ein anderes Beispiel: das der Kabarettistin Lisa Eckhart, die im Sommer nach Hamburg eingeladen wurde, um beim Harbour Front Literaturfestival aus ihrem Romandebüt zu lesen. Im Vorfeld zerrte irgendein gelangweilter Hüter der Moral einen zwei Jahre alten Auftritt von Eckhart aus dem Internet hervor, bei dem sie in provokanter Weise über Juden und Schwarze witzelte. Eckhart wurde von den Moralshütern des Antisemitismus und des Rassismus bezichtigt und wieder ausgeladen, weil man nicht für ihre Sicherheit garantieren könne, wie es von der Festivalleitung hieß. In dem "höchst linken Viertel", wo das Festival hätte stattfinden sollen, werde eine solche Veranstaltung nicht geduldet, hieß es damals. Auch mit Polizeischutz könnte es zu Straßenscharmützeln kommen. Es hätte Warnungen aus der Nachbarschaft gegeben.
Wirklich? Warnungen? Straßenscharmützel trotz Polizeischutz? War da nicht was mit freier Meinungsäußerung, Demokratie und so? Wo ist das alles jetzt hin? Zu Feinstaub der "Political Correctness" geworden? Hören hier unsere freiheitlichen Werte auf? Dürfen die das? Aber bei den Mohammed-Karikaturen war das doch okay. Ich dachte, das gilt für alle? So jetzt noch einmal ein Gedankenexperiment: Ersetzen Sie einmal das "höchst linke Viertel" mit das "höchst muslimische Viertel". Fällt Ihnen etwas auf? Was tut sich da bei Ihnen?
Tabus, die über das Ziel hinausschießen
Einige Intellektuelle, Schriftsteller und Journalisten, darunter der österreichische Autor Daniel Kehlmann und die vielfach kritisierte Rowling, haben im Sommer einen offenen Brief veröffentlicht, in dem sie die Vergiftung der Debattenkultur beklagen. Sie kritisieren, dass es keinen freien Austausch der Gedanken und Meinungen mehr gibt, wenn Chefredakteure gefeuert werden, weil sie unangenehme Artikel veröffentlichen, oder Professoren Disziplinarverfahren aufgebrummt bekommen, weil sie gewisse literarische Zitate in der Vorlesung verwenden.
Für viele Muslime sind Karikaturen des Propheten beleidigend. Areligiöse Europäer können und wollen das nicht nachvollziehen, weil sie das nicht persönlich erleben können. Das sei ihnen unbenommen. Aber hat nicht zuletzt die viel zitierte "Cancel-Culture" verordnet, dass es keine Witze mehr auf Kosten der Gefühle von Minderheiten und Benachteiligten geben darf?
Wir haben nun festgestellt, dass es Tabus auf beiden Seiten gibt, die jeweils über das Ziel hinausschießen und die es zu hinterfragen gilt. Es kann nicht sein, dass Rowling und andere Künstler oder Intellektuelle weltweit für ihre kritischen Aussagen geächtet, sozial und karrieretechnisch "gekillt" werden. Genauso wenig kann es sein, dass sich Muslime hinter der Islamophobie einmauern und vor jeglichem Missbrauch des Islams die Augen verschließen. Wenn Attentäter den Islam zur Grundlage ihres Mordens machen oder der Koran und Nebenquellen missbraucht werden, um Frauen gezielt zu unterdrücken, dann sind das Probleme, die mit allen Mitteln bekämpft werden müssen. Von Muslimen und Musliminnen zu verlangen, dass sie sich von Bluttaten islamistischer Attentäter distanzieren, ist hingegen absurd. Würde man von Männern verlangen, sich von den zahlreichen Frauenmorden, begangen von deren Partnern oder Ex-Partnern, zu distanzieren?
Ein Streit, der eigentlicheinfach zu lösen wäre
Wir müssen allerdings weiter aus dem Gesamtbild herauszoomen, um zum Kern des Problems zu gelangen. Worum geht es bei dem Krieg um die Mohammed-Karikaturen wirklich? Dieser Konflikt schwelt seit 15 Jahren, seit der Veröffentlichung der ersten Karikaturen in Dänemark. Viele Menschen sind dabei unnötig zu Tode gekommen. Es ist ein ständiges, gegenseitiges Anheizen eines Streits, der eigentlich einfach zu lösen wäre: Würden die westlichen Demokratien ihre hohen moralischen Ansprüche auch auf nicht-westliche Gesellschaften anlegen und die Muslime ihrerseits den Missbrauch ihrer Religion bekämpfen, wäre schon viel gewonnen.
Das liegt aber nicht im Interesse dieser beiden patriarchalen Systeme, des kapitalistisch- beziehungsweise postkolonial-patriarchalen und des religiös-patriarchalen. Das Lebenselixier beider Systeme ist ihre gegenseitige Feindschaft. Mit der Aufrechterhaltung der Spannung lenken sie von eigenen Defiziten ab, verwirren die Bevölkerung, um die Wut über die Ungerechtigkeiten in die für sie richtigen Bahnen zu lenken: nämlich weg von den "Zentren der Macht", die es eigentlich zu bekämpfen gäbe, wie es der deutsche Kognitionspsychologe Rainer Mausfeld genannt hat.
In diesem Sinne, liebe muslimische und nicht-muslimische Leserinnen und Leser: Richten Sie in Zukunft Ihr Augenmerk auf die "Zentren der Macht" und deren Strategien. Vorher beantworten Sie bitte noch diese Fragen für sich: Ist satirische Provokation wirklich eine Kunst? Haben Sie schon einmal mit einem Muslim oder einer Muslima über die Mohammed-Karikaturen gesprochen? Haben Sie sie sich schon einmal angesehen, und sind wirklich alle beleidigend? Haben Sie sich schon genauer mit dem sogenannten Bilderverbot im Islam auseinandergesetzt?