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Aus Trotz wird pure Verzweiflung

Von WZ-Korrespondentin Anke Stefan

Wirtschaft

Griechischer Protest formierte sich auf Dauer nur bei Berufsgruppen.


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Athen. Im täglichen Überlebenskampf der Griechen spielte hohe Politik im letzten Jahr kaum eine Rolle. Denn neue Steuerlast und eine katastrophale Arbeitsmarktlage spürten sie direkter als den Schuldenschnitt. So hat sich Protest auf Dauer nur bei Berufsgruppen formieren können.

"Du nimmst uns nicht den Cayenne, Olli Rehn" hatten Demonstranten 2010 noch gerufen. Im zweiten Jahr der über Griechenland verhängten Austeritätspolitik waren derart selbstironische Parolen nicht mehr zu hören.

Denn aus dem trotzigen Widerstand der Betroffenen gegen die Sparmaßnahmen ist längst ein Kampf um den bescheidenen Wohlstand geworden. Für viele geht es ums Überleben. Und so waren 2011 andere Botschaften an die Adresse der Gläubigertroika aus EU, IWF und EZB symptomatisch für die Verzweiflung. "Wir werden nicht zulassen, dass ihr den Deckel über dem Sarg schließt, in den ihr uns geworfen habt", stand beispielsweise auf einem Streiktransparent.

Steuerlast macht wütend

Die Besitzer von Porsche-Geländewagen haben die Sparmaßnahmen dabei auch in diesem Jahr wohl wenig gespürt. Getroffen hat es Halter von Kleinwagen. Sie gaben im Dezember in Massen - die Rede war von mehr als einer Viertelmillion - ihre Nummernschilder ab, weil sie kein Geld für Steuer, Versicherung und Benzin aufbringen konnten. An den letzten beiden Tagen des Jahres allerdings streikten dann die Steuerbeamten.

Anfang Dezember bescheinigte die OECD Griechenland eine Staatsbürokratie, die die Umsetzung von Reformen behindere. Wer in Griechenland lebt, braucht für diese Feststellung keine Kommission, die Mehrheit der Menschen leidet darunter, eine Minderheit ist damit reich geworden. Weil die Leitung dieses Staatsapparates entweder unfähig oder unwillig ist, die Minderheit zur Verantwortung zu ziehen, musste auch dieses Jahr wieder die Mehrheit leiden. Anstatt dass die angeblich im Überfluss vorhandenen Staatsbediensteten zur Kontrolle der Selbstständigen eingesetzt worden wären, um Ärzte oder Handwerker zu finden, die keine Quittungen ausgeben, wurde eine Kopfsteuer für Selbstständige verhängt. Viele Freiberufler konnten nun nicht einmal ihre Sozialversicherung bezahlten.

Die neue Sondersteuer auf Immobilienbesitz und die Sondersteuer auf Einkommen über 12.000 Euro im Jahr trifft Millionen abhängig Beschäftigter. Der im großen Stil steuerbetrügende Nachtklubbesitzer mit deklariertem Einkommen am Rande der Armutsgrenze dagegen ist fein raus, so die Vorstellung der Betroffenen.

Protest formierte sich

Diese Ungerechtigkeit hat auch 2011 die Menschen in Griechenland auf die Straße getrieben. Nach dem spanischen Vorbild der "Indignados" versammelten sich ab Mai fast jeden Abend tausende "Empörte" vor dem griechischen Parlament, um ihren "Volksvertretern" mit dem griechischen Fluch der ausgestreckten Hand zu zeigen, was sie von ihnen halten. Die beiden großen Parteien Pasok und Nea Dimokratia sind für viele Inbegriff für Korruption und Klientelwirtschaft.

Während die Bewegung der "Empörten" Anfang August wieder versiegte, hielten die Proteste gegen die konkreten Austeritätsmaßnahmen das ganze Jahr über an. Fast jeden Tag streikten Angehörige einer oder mehrerer Berufsgruppen. Einzelne Branchen, wie die Taxifahrer oder die Angestellten der Müllabfuhr, streikten über Wochen. Andere, wie Ärzte oder Lehrer, traten immer wieder für einzelne Tage in den Ausstand.

Viermal wurde die griechische Wirtschaft durch Generalstreiks für einen, weitere zwei Mal sogar für zwei Tage lahmgelegt. Die Zunahme des Widerstands ist nicht verwunderlich. Bereits im August war die Arbeitslosenquote auf 18,4 Prozent gestiegen, mehr als die Hälfte von ihnen war mehr als ein Jahr lang arbeitslos und damit aus dem dünnen Netz der staatlichen Arbeitslosenunterstützung gefallen. Gleichzeitig stieg die Zahl der seit Monaten unbezahlten Lohnabhängigen, deren Betriebe Konkursverfahren eingeleitet haben.

Immer mehr arme Familien

Seit dem Herbst verging kein Tag ohne Berichte über in den Schulen wegen Unterernährung in Ohnmacht gefallene Kinder. Die griechische Sektion von SOS Kinderdorf hat unterdessen Nothilfeprogramme für verarmte Familien eingeleitet, da sie die an ihren Pforten abgegebenen Kinder nicht mehr aufnehmen kann.

Im Kampf um das tägliche Brot verblassten für viele die großen Themen auf den politischen Bühnen. Kaum einer schenkte den im Anschluss an den EU-Gipfel im Oktober kursierenden Szenarien, den Diskussionen um Schuldenschnitt, die Rettung des Euro oder die Rückkehr zur Drachme große Aufmerksamkeit. Selbst die Konkurserklärung der Regierung unter Giorgos Papandreou und die Einsetzung der Dreiparteienregierung unter Lucas Papademos im November wurde mehrheitlich einfach nur zur Kenntnis genommen. In den regelmäßig vorgenommen Umfragen, wem man zutraue, das Land aus der Krise zu führen, blieb der Favorit stets derselbe: Niemand.

Ohne eine Änderung der Politik, die das Land in den letzten zwei Jahren nicht etwa aus der Krise heraus, sondern seine Wirtschaft auf eine rasende Talfahrt geschickt hat, wird sich daran wohl auch im nächsten Jahr nichts ändern.