Warum die #BlackLivesMatter-Demo in Wien für Anna S., Mutter von vier Kindern, wie ein Befreiungsschlag war.
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Wien, Mitte März. Anna S. erlebt den Corona-bedingten Shutdown als massiven Eingriff in das Leben ihrer Familie. Die Schule ihres 13-jährigen Sohnes geschlossen, das Museum, wo sie im Depot als Restauratorin arbeitet, ebenfalls, Homeoffice, dann Kurzarbeit, die drei älteren Töchter nicht treffen dürfen. Statt drei, vier Besuchen der 84-jährigen Mutter im Pflegeheim pro Woche sieht diese nun weder Anna S. noch deren Bruder. Die Frau nimmt Wörter wie Diktatur in den Mund: "Sie sperrten uns ein, nahmen mir meine Freiheit, meine Grundrechte weg", beschreibt sie ihre Gefühle im Rückblick kurz nach Mitte März.
Manchmal empfand sie Ohnmacht, hielt sich an die als extrem wahrgenommenen Einschränkungen aus wirtschaftlichen Überlegungen: "3000 Euro Strafe, das würde unseren Ruin bedeuten, das war mir zu riskant." Manchmal überwog der Wille zu rebellieren, sich selbst und anderen zu helfen. Für den Nachbarn kochen, der im Austausch dafür den Sohn bei Mathematik unterstützte, oder das Kind einer Freundin während deren Pflegeschichtdienstes betreuen. Gefühltes Wegbrechen der sozialstaatlichen Unterstützung, des Bildungs-, des Sozial- und des Gesundheitswesens. "Politik und Medien stellten die Probleme der Menschen als persönliches Versagen des Einzelnen dar, und nicht als vom System bedingt", sagt S.
Dazu die Unsicherheit, solche Treffen in Privatwohnungen konnte der Staat ja nicht beschränken, aber was ist im öffentlichen Raum? Dass Anna S. ihre Bedenken gegenüber den Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie in Österreich weit über deren gesundheitlichen Nutzen stellt, hängt auch mit ihrer familiären Herkunft zusammen: "Es ist keinesfalls gleichzusetzen. Meine Mutter überlebte den Holocaust, der hat meine Familie viele Menschen gekostet, die sind ermordet worden. Aber als die Vorschriften, die Ausgangssperren, die Sanktionen kamen, ratterte in mir ein Film ab, so begann das 1938. Mich beschäftigte die Sorge, wohin das führen kann."
Demonstrativer Ruf nach Freiheit
Szenenwechsel: Wien, 4. Juni. "Black Lives Matter"-Demo. Anna S. und ihre vier Kinder waren da "selbstverständlich" mit dabei - mit 50.000 anderen. Sie strahlt, "alle waren komplett von den Socken, dass so viele da waren". Grund für das Kommen sei der brutale Mord an George Floyd in den USA gewesen. "Die Wut über solche Ungerechtigkeiten, wir sehen ja immer nur die Spitze des Eisbergs, da ist ja System dahinter." Dieses System offenbarte die Krise. Sie traf und trifft sozial Schwache oft zugleich, Schwarze bekanntermaßen mehr. Dazu eben Polizeigewalt, Rassismus. "Das war der Zündstoff."
Sie sagt aber auch: "Viele der jungen Leute kamen aber auch, weil sie von diesem Corona-System die Nase voll haben. Ich habe die Demo auch als Ausbruch aus der Unterdrückung ihres Potenzials wahrgenommen, eine Rebellion gegen die Einschränkungen, ein Schnappen nach Luft", sagt Anna S.
Eine weitere Motivation war: "Bitte nicht bei uns." Denn sie hat Erfahrung. Der Vater von Anna S. Sohn wurde in Westafrika geboren, hat schwarze Hautfarbe, ihr Sohn auch. Anna S. weiß sowohl von "subtilem Rassismus" zu berichten, von Bagatellen, die bei anderen meistens nicht bestraft werden, wie einer Autofahrt über eine gelbe Ampel oder dem Fragen nach einer Dienstnummer eines Polizisten, die bei ihrem Ex-Mann zu Anzeigen führten.
Die Stimmung habe sich in der Zeit der türkis-blauen Regierung mit Herbert Kickl als FPÖ-Innenminister deutlich verschlechtert, sagt Anna S. In dieser Zeit gab es Rückschritte, was das Hinterfragen von Polizeigewalt anbelangt: "Das hat mich schon erschreckt, was sich die Polizei rausnehmen konnte, weil das Ministerium den Mantel des Schweigens darüber gebreitet hat."
Wobei Anna S. auch von einer "fairen, sensibilisierten Polizei in Wien, mit der man über solche Probleme gut reden kann", erzählt. Klar ist auch, dass Übergriffe nicht immer rassistisch motiviert sind; sie erinnert an den Vorfall bei einer Klimaschutz-Demonstration. "Das Opfer aus Deutschland, weiß, gebildet, vermutlich christlich - also kein rassistischer Hintergrund."
Rassismus in Österreichs Corona-Zeit
Wobei die Corona-Krise Rassismus in Österreich verstärkte, im Netz aber auch im realen Leben, wie der vor Kurzem veröffentlichte Rassismus-Report von Zara zeigt: erst gegenüber Asiaten, dann gegenüber Flüchtlingen. Beiden Gruppen wurde die Verbreitung des Coronavirus unterstellt. Zara berichtete sogar von einem tätlichen Übergriff Erwachsener gegenüber Kindern, denen sie chinesische Herkunft zuschrieben.
Eine körperliche Attacke musste Anna S. Sohn nicht erleben, sehr wohl aber fiel seine erste rassistische Erfahrung mit der Polizei in die Corona-Krisen-Zeit - und zwar beim erlaubten Bewegen im Freien, wo die Polizei noch Ende April, Anfang Mai sehr präsent war.
Er sei an einem dieser sonnigen Tage mit zwei Freunden radfahren gewesen, erzählt Anna S. "Eh mit Sicherheitsabstand, trotzdem blieben die Polizisten genau bei ihm stehen, beim Einzigen, der dunkel ist, nicht bei den anderen beiden, blond, blauäugig, und schrien ihn an: ‚Fahr heim, warum musst du hier radlfahren?‘ Dann ging er zwei Wochen nicht raus, weil er Angst vor der Polizei hatte."
Dass schwarze Menschen deutlich öfter von der Polizei kontrolliert werden, ist in Österreich Normalität. Während der Corona-Krise wurden Zara zwar nicht mehr Vorfälle gemeldet. "Wir wissen allerdings auch, dass rassistisch motivierte Polizeivorfälle besonders selten gemeldet werden", sagt Zara-Geschäftsführerin Caroline Kerschbaumer.
Anna S. Sohn verkroch sich danach hinter seiner Playstation. "Er zieht sich in die Technikwelt zurück, wenn er gekränkt wird - und das hat ihn sehr gekränkt." Denn seine zweite Strategie, mit Kränkungen umzugehen, sich wütend im Fußball auszupowern, das war zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Das machte er zum Beispiel, als er in der letzten Schule wegen seiner Hautfarbe gemobbt wurde - und das damalige Lehrpersonal nicht einschritt.