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Auschwitz, über das Gedenken hinaus

Von Margaritis Schinas

Gastkommentare
Margaritis Schinas ist seit 1. Dezember 2019 Vizepräsident der Europäischen Kommission und EU-Kommissar für die Förderung unserer europäischen Lebensweise. Zu seinen Aufgaben gehört die Koordinierung der Maßnahmen zur Bekämpfung von Antisemitismus. Von 2007 bis 2009 war er Abgeordneter der griechischen Nea Dimokratia im EU-Parlament und von 2014 bis 2019 Chefsprecher der EU-Kommission. 
© reuters/Yves Herman

Antisemitismus kostet auch heute noch Menschenleben und bedroht unsere Gesellschaft in ihren Grundfesten.


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Weniger als ein Kilometer trennt die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau vom Haupteingang des gleichnamigen NS-Konzentrationslagers.

Der Besucher kann diese Entfernung innerhalb von zehn Minuten zurücklegen.

Aber es ist ein schwerer Gang. Denn jeder Schritt entlang der Gleise, auf denen mehr als eine Million Männer, Frauen und Kinder einem schrecklichen Tod entgegenfuhren, vergegenwärtigt einem das fatale Versagen der Menschheit, die nicht imstande war, die Massenvernichtung unschuldiger Menschen zu verhindern. Und zugleich unser aller große Verantwortung, dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht. Die Gedenktafel trägt die aufrüttelnden Worte: "Dieser Ort sei allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit."

In diesem Jahr jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 75. Mal. Innerhalb und außerhalb Europas findet eine Fülle von Gedenkveranstaltungen statt – ein wichtiger Anlass, den sechs Millionen Juden und den zahlreichen anderen Menschen, die wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Identität oder ihrer Weltanschauung von den Nazis ermordet wurden, Ehre zu erweisen. Ein Anlass, über die Shoah und ihre Auswirkungen bis in die Gesellschaften unserer heutigen Zeit nachzudenken.

Und Anlass zu bekennen: wir erinnern uns. Doch ist es mit dem Gedenken allein nicht getan. Am 23. Jänner gaben die Präsidentin der Europäischen Kommission sowie die Präsidenten des Europäischen Rates und des Europäischen Parlaments auf dem Fünften Welt-Holocaust-Forum in Jerusalem ein klares Bekenntnis ab: "Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind sich einig in der Ablehnung aller Ausdrucksformen von Rassismus, Antisemitismus und Hass – in Europa ist dafür kein Platz, und wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um diesen Kräften entgegenzuwirken."

Europa hat schon viel getan. 16 EU-Mitgliedstaaten haben bereits die von der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken entwickelte Definition von Antisemitismus angenommen, eine wichtige gemeinsame Grundlage für die Erkennung und Bekämpfung des Phänomens in all seinen Formen.

Doch es gibt keinen Grund, sich zufrieden zurückzulehnen. Es häufen sich antijüdische Vorfälle. Einer aktuellen Umfrage unter europäischen Juden zufolge wurde jede dritte Person mit jüdischen Identitätsmerkmalen mindestens einmal verbal oder tätlich angefeindet.

Angriffe gegen uns alle

Die Schüsse in Halle und Brüssel gereichen uns zur Mahnung, dass Antisemitismus auch noch 75 Jahre nach dem Holocaust Menschenleben kostet und unsere Gesellschaften in ihren Grundfesten bedroht. Denn wenn ein Bewaffneter zu Yom Kippur in einer Synagoge oder in einem Museum im Herzen der europäischen Hauptstadt das Feuer eröffnet, so zielen diese Angriffe nicht nur auf die jüdische Gemeinschaft. Diese Angriffe richten sich gegen uns alle. Gegen unsere Grundwerte und Grundsätze. Gegen die Einheit, die Vielfalt und den Zusammenhalt unserer Gesellschaften. Gegen alles, was unsere europäische Lebensweise ausmacht.

Als Sohn der Stadt Thessaloniki bin ich mir des immensen Beitrags der jüdischen Kultur zu unserem europäischen Erbe zutiefst bewusst. Und auch der entsetzlichen Auswirkungen des Holocaust auf eine Stadt, die einst blühendes Zentrum der Ladino sprechenden Sephardim und deshalb als "Madre de Israel" bekannt war. Unter meiner Verantwortung hat die Europäische Kommission ein neues Team zur Bekämpfung von Antisemitismus eingerichtet, dessen Aufgabe es ist, die Mitgliedstaaten bei der Entwicklung umfassender nationaler Strategien zu unterstützen und zu koordinieren: von der Bekämpfung von Hassverbrechen und Hetze über den Schutz und die Integration jüdischer Gemeinschaften bis hin zu Aufklärung und Sensibilisierung.

Sicherheit ist nach wie vor das wichtigste Anliegen der jüdischen Gemeinschaften. Auf EU-Ebene arbeiten wir an einer Sicherheitsunion, in der sich jede Europäerin und jeder Europäer – unabhängig von Glauben, Herkunft oder Aufenthaltsort – sicher und geschützt fühlt. Wir werden die Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Verhinderung von Radikalisierung, zur Bekämpfung von Hetze im Internet und zur Gewährleistung der physischen Sicherheit jüdischer Gemeinschaften weiterhin unterstützen. Synagogen, Gemeindezentren, Schulen und Universitäten müssen Stätten sein, an denen jüdische Kultur geachtet, studiert und gelebt wird und keinen Angriffen ausgesetzt sein darf.

Mehr Anstrengungen bei der Aufklärung

Zugleich müssen wir unsere Anstrengungen im Bereich der Aufklärung verstärken – sie stellt das wirksamste Instrument dar, um antisemitische Vorfälle auf lange Sicht zu verhindern. Wir müssen unsere Kinder, unsere Bürgerinnen und Bürger sowie unsere Strafverfolgungs- und Justizbediensteten über die Shoah aufklären und sie für die modernen Auswüchse des Antisemitismus sensibilisieren. Die Schulen spielen, genauso wie eine ehrgeizige inklusive Bildungsagenda, eine entscheidende Rolle bei der Veränderung von Wahrnehmungen und Einstellungen. Auch in diesem Kontext können die Programme der Europäischen Union zur Förderung der Mobilität von Studierenden und der Forschung eine wertvolle Unterstützung für die Strategien der Mitgliedstaaten sein.

Schlussendlich müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass Antisemitismus nicht nur ein europäisches Problem ist. Antisemitismus erfordert eine globale Antwort, und aus diesem Grund muss die Europäische Union ihre Kräfte mit all denjenigen Ländern und internationalen Organisationen bündeln, die bereit sind, sich für Menschenrechte und Werte wie Gleichberechtigung, Pluralismus und Vielfalt sowie für Religions- und Meinungsfreiheit einzusetzen.

Am Montag, den 27. Januar werde ich im Namen der Europäischen Union gemeinsam mit Holocaust-Überlebenden und führenden Politikern aus der ganzen Welt die Strecke von der Todespforte bis zur Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau abschreiten, um all jenen, die hier zu Tode gekommen sind, sowie weiteren Millionen von Menschen, die unter der Geißel des Antisemitismus zu leiden hatten und noch heute bedroht sind, Ehre zu erweisen.

Es ist unsere Pflicht, nicht nur zu gedenken, sondern auch die Stimme zu erheben und zu handeln.