Euphorie nach dem Umsturz - | Kiew im Revolutionstaumel.
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Kiew. Arseni Jazenjuk blickte etwas verstört drein. Die Wagenkolonne, die den Janukowitsch-Gegner und seine Parteichefin Julia Timoschenko wie gewöhnlich an allen Verkehrsbehinderungen vorbei zum Kiewer Flughafen Borispil bringen sollte, wurde aufgehalten. Von Männern der "Selbstverteidigung", von Parteigängern der ehemaligen Opposition also, die am Wochenende in der Ukraine die Macht übernommen hat. Jazenjuk stieg aus dem Auto aus. "Wir wollen eine neue Ukraine aufbauen", begann ein junger Mann auf ihn einzureden. Die bisher üblichen Wagenkolonnen, die die Ukrainer in Menschen erster und Menschen zweiter Klasse teilten, müssten ein Ende haben. "Wir sind Ukrainer, und vor dem Gesetz sind wir alle gleich." "Sie haben recht, sie haben recht", blieb Jazenjuk zu sagen.
Die Zeiten in der Ukraine haben sich geändert. Trotz des totalen politischen Umsturzes in Kiew bleiben die Protestierenden auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz im Zentrum der Stadt - an erster Stelle, um der Toten zu gedenken, die beim Kampf gegen Präsident Wiktor Janukowitsch und seine "Bande" gefallen sind. Aber auch deshalb, weil die Demonstranten tatsächlich eine neue Ukraine wollen - und weil sie der korrupten politischen Klasse nicht zutrauen, das Land auf neue Füße zu stellen.
Den Unmut der Bürger bekam am Wochenende auch Julia Timoschenko zu spüren: Die 53-Jährige wurde bei ihrer Rückkehr aus der Haft keineswegs frenetisch bejubelt, die Zustimmung, in die sich Pfiffe mischten, war allenfalls verhalten. Viele Ukrainer, die Timoschenkos Auftritt sahen, fragten sich, was davon echt und was gespielt war. Der Umstand, dass die Ex-Premierministerin mit Stöckelschuhen im Rollstuhl saß - demnächst soll sie auf grund ihrer Rückenschmerzen für medizinische Behandlungen nach Deutschland reisen - ließ manche zweifeln, ob Timoschenko nicht nur eine ihrer Inszenierungen, ein Rührstück vorführt. Timoschenko wird wegen ihrer Haft respektiert, verkörpert mit ihrer Oligarchen-Vergangenheit als neureiche "Gasprinzessin" in den 1990er Jahren aber geradezu das, wogegen sich der jetzige Aufstand richtet.
Dass sie unter Janukowitsch interniert war, als dessen Intimfeindin galt, hat Timoschenko freilich nicht gerade geschadet - zu einer ordentlichen osteuropäischen Heiligenlegende gehört auch die unrechtmäßige Haft. "Dennoch ist Timoschenko nicht mehr so beliebt wir in ihrer besten Zeit. Viele sagen, sie sollte jetzt einmal in Ruhe in Deutschland ihr Leiden auskurieren", meint Mykhaylo Banakh, Projektmanager der "International Renaissance Foundation" des Milliardärs George Soros in Kiew zur "Wiener Zeitung". Er verweist auch darauf, dass schon im Dezember Politiker bei den Demonstranten reserviert aufgenommen wurden, dass der Protest anfänglich sogar auf zwei Plätze verteilt war, weil ein Gros der Demonstranten keine Politiker dabeihaben wollte. Dennoch könnte Timoschenko im nun anlaufenden Machtpoker gute Karten haben: Übergangspräsident Oleksandr Turtschinow stammt aus Timoschenkos Partei "Vaterland" und diente ihr bisher als treuer Adlatus. Arseni Jazenjuk, der die Partei während Timoschenkos Haft geführt hatte, scheint sich wieder mit seiner Rolle als Nummer zwei zufriedenzugeben. Außerdem hat der 39-Jährige einen Nachteil: Er hat am Freitag den Kompromiss mit Janukowitsch mitunterzeichnet, ganz wie seine Oppositionskollegen Witali Klitschko und Oleh Tjahnybok, der Führer der Nationalistenpartei Swoboda. Auch deswegen gründen sich derzeit um die Maidan-Bewegung viele neue Parteien.
Trau keinem über 30
Der Umstand, dass nach dem Umsturz in der Werchowna Rada, dem Parlament, die alten Machtspiele wieder losgingen, sorgte am Maidan für wenig Begeisterung. "Außerdem sind noch längst nicht alle gefangen genommenen Aktivisten freigelassen", sagt Banakh. Zwar leitet nun ein Mann der nationalistischen Swoboda die Staatsanwaltschaft, die dort arbeitenden Leute stammen aber größtenteils aus Donezk und wurden von Janukowitsch eingesetzt. "Die Leute fragen sich jetzt: Julia ist frei, aber was ist mit unseren Leuten? Sie wollen eine völlige Erneuerung der politischen Szene."
Wie das vonstatten gehen soll, bleibt aber schleierhaft. Der gemeinsame Widerstand gegen Janukowitsch hat ein euphorisches Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen lassen, eine oft nationalistisch gefärbte Revolutionsromantik. Die Leute am Maidan wollen alles Mögliche, vor allem viel Jugend in der Politik. "Auf dem Maidan wird übrigens Österreichs Außenminister Sebastian Kurz als positives Beispiel für junge Politiker angeführt", erzählt Banakh.
Die überschießenden Erwartungen und die nationalistische Stimmung haben in dem instabilen Zustand, in dem sich die Ukraine derzeit befindet, aber bereits zu fragwürdigen Beschlüssen geführt. So wurde das Sprachengesetz für Minderheitensprachen, das auch der russischen Sprache den Status einer Amtssprache zusichert, sofort für null und nichtig erklärt - ein politisch wohl mehr als unkluger Schritt, der die russischsprachigen Teile des Landes vor den Kopf stoßen muss. Dennoch gab es zumindest am Montag noch keine ausgeprägte Sezessionsstimmung im Süden und Osten. Die politische Szene im russophilen Teil der Ukraine liegt in Agonie, die ehemaligen Gefolgsleute Janukowitschs distanzieren sich demonstrativ von ihrem Ex-Mentor, der sich irgendwo im Süden des Landes auf der Flucht befindet. Ein Aufstand des Südens und Ostens ist noch nicht in Sicht - wenn auch auf der Krim in Sewastopol der "Russische Block" Massenveranstaltungen abhält und die autonome Halbinsel schützen will.