Hommage an einen Ort der vergilbten, papiergewordenen Zeit.
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Alle Comicläden sind gleich. Sie sind es nicht von außen, und von innen schon gar nicht, aber darin, was sie in einem auslösen. Genauso wie alle Buchgeschäfte und alle Kinos und alle Plattenhöhlen gleich sind. Manche Behauptungen sind mehr Entscheidung als Beschreibung. Ich spreche also von allen Comicläden, wenn ich von meinem Comicladen spreche. Er, denke ich, ist sogar noch ein bisschen gleicher als die anderen.
Der Comicladen empfängt einen mit grauem Duft nach Altem und Staub. Orte wie diese dürfen nicht zu sauber und aufgeräumt sein, sie müssen leben und ihre Lebendigkeit als harmloses Chaos ausstrahlen. Die meisten tun zum Glück genau das. Es muss Bereiche geben, die an eine Messie-Wohnung erinnern, mit hüfthohen Stapeln aus Ungelesenem, mit einem Wegbahnen durch vergilbte, papiergewordene Zeit, mit angehaltenem Atem, um schmal zu sein und am Rand vorbei zu passen. Fehlen diese Bereiche, dann hat jemand etwas noch nicht verstanden oder wird es nie verstehen.
Kopie der Kopie
Viele meinen, dass sie durch die Tür des Comicladens einen Comicladen betreten haben. Was sie aber tatsächlich betreten haben, ist das ausgelagerte Jugendzimmer des Comicladenbesitzers. Dementsprechend sieht es hier auch aus. Romantische Verklärung - jedes Bild ist ja bekanntlich nur der Blick darauf. Ein Comicladenbesitzer darf nie ganz erwachsen geworden sein. Er sollte möglichst allen über ihn verbreiteten Klischees entsprechen, unfrisiert und bebrillt sein, damit er in seiner Rolle glaubhaft wirkt.
Den Comicladenbesitzer umhaucht eine freundliche Melancholie. Er ist niemand, wollte aber auch nie jemand sein. In ihm erkenne ich mich. Sein Stehen ist taglanges Warten auf Kundschaft, die manchmal kommt - und manchmal nicht. Er trägt ein herbstfarbenes Holzfällerhemd und blinzelt klug aus zutraulichen Augen. Die nervösen Finger spielen am Tresenholz rasant Klavier, damit es Abend wird.
An manchen Tagen stochert er lustlos mit den Augen in etwas, aus dem er aufschaut, wenn einer kommt oder geht. Er strahlt aus, dass er - ohne dich zu kennen - dein Kumpel ist. Seine Langhaar-Locken waren einmal frisch gewaschen. Er steht in sein Warten gebeugt oder vom Leben geknickt. Ich sehe ihn an und weiß etwas über ihn und nenne es gelassene Zerstreutheit.
Er ist wie der Bub, dessen Traum, einmal ein Zuckerlgeschäft zu besitzen, leider erfüllt wurde. Und wie der Bub sich an den Süßigkeiten bald sattgegessen hat, so hat sich der Comicladenbesitzer an den Bildabfolgen sattgesehen, an den Actionfiguren sattgespielt, an den Kostümen sattverkleidet. (Dass in Buchgeschäften die Nicht-Bücher immer mehr Umsatz generieren, erstaunt noch, der gut sortierte Comicladen strotzte immer schon vor Merchandise und Nerdware.)
Und wie bei Büchern, Filmen, Musik sind auch hier neunzig Prozent nur Kopie der Kopie. Die verbleibenden zehn Prozent aber haben es in sich, fordern den Bilder-Leser heraus und mit Vehemenz etwas ein: Hab andere Augen für einen klareren Blick, mit dem du neu schaust! Ein guter Comic ist eine schöne Aufgabe, der man sich stellt. Der richtige Comic zur rechten Zeit rettet einem hin und wieder das Leben. Genauso wie Bücher, Filme, Musik.
Der Ort ist aus der Zeit gefallen, nie ganz im Heute angekommen. Seine Gegenwart, in der er vor sich hin überlebt, ist bloß die Zukunft der Vergangenheit.
Verstreut liegen ein paar Österreicher und Deutsche herum, für den Massengeschmack zu spe-ziell. Sie sehen ziemlich müde und mitgenommen aus. Kaum einer hebt sie hoch, um darin zu blättern. Unverkäuflich schlummern sie dich an. Weiter hinten sind meine Lieblinge, die feinsinnigen, oft lüsternen Franzosen. In ihrem Land hat die "Neunte Kunst" einen anderen - höheren - Stellenwert. Sie wird anerkannt als gesellschaftsbegleitend und debattenbefördernd. Sie ist unwidersprochener Bestandteil des kulturellen Geschehens. Bei uns herrscht diesbezüglich Nachholbedarf.
Die Unbesiegbaren
Der Comicmarkt - das zeigt sich auch hier - ist fest in amerikanischer Hand. Einer venös-muskulösen, flaggenfarben behandschuhten Superheldenhand, wohlgemerkt. Kaum ein Tier, an das nicht irgendein findiger Vermarkter ein "-Man" gehängt hätte, um die Abenteuer dieses so geschaffenen Unbesiegbaren zwischen Heftdeckel zu pressen.
Es heißt, man könne nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Bei den Comicreihen von Marvel und DC greift man in den immergleichen Plot-Strom. Dieser plätschert seit Jahrzehnten gemächlich dahin, nimmt verwegene Abzweigungen, die doch wieder zurück zum Anfang führen und mit jeder Wiederholung etwas abgelutschter wirken. Um das Sommerloch zu füllen, strickt man ein Crossover, welches mehrere Heftreihen verbindet, in das der jugendliche Leser Taschengeld und neu gewonnene Freizeit investiert. Wie viele Tode ist der Held schon gestorben, bloß um im Herbst pünktlich zu Schulanfang seine glorreiche Wiederauferstehung zu feiern? Wenn schließlich alle Konfliktpaare aneinandergeraten, alle Nebenstränge auserzählt sind, hilft nur noch der Reboot. Alles wird auf null gesetzt, das Cape modernisiert, Aufmachung und Ausrichtung erneuert. Das Spiel beginnt von vorne.
Warum eigentlich lese ich neben anspruchsvollen Graphic Novels manchmal - immer seltener - auch diesen marktkonformen Schund? Er eignet sich als Nebenbei-Lektüre in der U-Bahn, gibt zwischendurch bunte Zerstreuung. Und vor allem: Er versetzt zurück in eine Kindheit, die so comicvernarrt gar nicht war. Man weiß, was man kriegt, und dass es immer das Gleiche sein wird. In einer unverbindlichen, rastlosen Zeit bieten diese Heldenheftchen heilsame Verschnaufpausen. Sie gedanklich zu betreten, ist wie ein Pflichtbesuch bei Verwandten, die nicht altern und einen heimelig unterfordern.
Allerweltsplots
Die vielgescholtenen holzschnittartigen Charaktere und austauschbaren Allerweltsplots sollen bleiben, wie sie sind. Sollen helfen, runterzukommen von ernstzunehmender Lektüre. Jedes ausgelesene Heft ein Etappensieg gegen die Wirklichkeit. (Und wie jeder gute Sieg völlig bedeutungslos.)
Der Comicladen muntert auf. Wahrscheinlich kaufe ich nur deshalb hin und wieder dort ein, um meinen Beitrag zu leisten, dass es ihn weiter gibt. Als Ort im Abseits darf er nicht verlorengehen. Er zieht mich - magisch? - an. Kein Nachtspaziergang, ohne bei ihm Halt zu machen und mir die Nase am Schaufenster plattzudrücken: Ist etwas hinzugekommen? Wer durch wen ersetzt?
Mittlerweile greife ich fast ausschließlich zu gebrauchten Comics. Das hat nicht nur, aber auch finanzielle Gründe. Die Gebrauchtware nistet in geräumigen, mürbegeschleppten Kartons. Darin grabe, darin suche und finde ich. Das Cover abgerissen, die Unterkante zerschrammt, insgesamt eine vernarbte Erscheinung. Geschundene Papierwesen wie Überlebende eines Kriegs. (Er heißt Alltag und spielt sich in gebeutelten Rucksäcken ab.)
Eine Mindestlohnstunde Arbeit geht bei Neuware für so ein Heftchen schon drauf, bei Hardcoverbänden drei oder vier. Dann doch lieber das Wühlen im Kram. Längst habe ich aus der Not eine Tugend gemacht, behagt mir die Abgegriffenheit der Hefte als ihr gelebtes Leben vor der Zeit mit mir. Wenn ich mit ihnen durch bin, schenke ich sie oft weiter. Wie sie zu mir geflattert sind, so flattern sie weiter zum nächsten.
Die Comicladenbesucher lassen sich einteilen in verschiedene Gattungen. Es gibt den Zufallsgast, der sich hineinverirrt, blind gestolpert in eine Party, zu der er nie eingeladen war; er bittet nicht um Hilfe, weil es ihn als Uneingeweihten entlarven würde. Es gibt den ernsten Stöberer und sein routiniertes Abgrasen der Regale nach fehlenden Teilen seiner Sammlung. Es gibt den Junggebliebenen, der zwar längst berufshöriger Familienvater, aber immer noch verschwitzter Pubertierender ist. Es gibt das Kind als großäugigen Entdecker einer Lebensmöglichkeit.
Ich bin keiner von ihnen und jeder ein bisschen, schaue regelmäßig vorbei und erwecke kaum Verdacht. Der Thekensteher fragt nicht mehr, ob er behilflich sein kann. Hier, im Comicladen, bin ich, was ich nirgendwo sonst bin: ein vertrautes Gesicht. Das bin ich sonst nur beim Chinesen ums Eck für den kleinen Spätabend-Einkauf.
Konzentriertes Staunen
Comicleser sind eine verschworene Gemeinschaft. Jeder weiß über den anderen, wie es ist, für seine Interessen, seine Vernarrtheiten belächelt zu werden. Nur mühsam schleppt sich die Popkultur mit all ihren schrulligen Nischen aus dem Nerdkeller ins offene Haus der Gesellschaft.
Im Ausland sind die Läden erste Anlaufstellen für ein freundliches Gesicht. Taucht einer in Blickweite auf, muss ich hinein, um mich ein bisschen zu Hause zu fühlen. In Buchgeschäften regiert die fremde Sprache, hier jedoch gibt es allerorts eine Kernauswahl englischsprachiger Comicliteratur, gängige Massenware, die sich von Land zu Land kaum unterscheidet. Wer hier verkauft, spricht Englisch, selbst dort, wo die Leute es sonst nicht tun. Im Fachsimpeln freundet man sich mit Unbekannten an.
Konzentriertes Staunen durch die Regalreihen. Von Monat zu Monat werden es mehr Hefte, sie wuchern, pflanzen sich womöglich ungesehen fort. Gern würde ich mich einmal abends hinter einem Heftstapel verstecken und über Nacht im Comicladen einsperren lassen, um festzustellen, wie es darin spukt.
Neben den vielen kleinen Türen in viele andere Welten - die sich als laute Covers tarnen -, gibt es irgendwo die eine große Tür in die eine andere Welt. Diese öffnet sich nur nachts. Da vermehren sich die Hefte, da schälen sich die Actionfiguren aus ihrer Plastik-Enge und kämpfen ein bisschen, um bis zur endgültigen Befreiung in Übung zu bleiben; Muskelprotze mit Langschwert, Untote mit absteckbarem Arm. Vorerst aber lasse ich die Spuker in Frieden. Ich zahle und gehe zurück in den Tag.
Der Comicladen behält sein Geheimnis. Ich kenne es nicht. Ich bleibe ihm treu.
Lukas Meschik, geboren 1988 in Wien, wo er nach wie vor lebt. Buch-Veröffentlichungen in den Verlagen Luftschacht ("Jetzt die Sirenen", Roman; "Anleitung zum Fest", Erzählungen) und Jung & Jung ("Luzidin oder die Stille", Roman). Er ist Sänger und Texter der Wiener Band Filou.