Rund 3000 Menschen auf der Flucht harren vor dem Keleti-Bahnhof in der ungarischen Hauptstadt aus.
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Budapest. Der kleine Teppich leuchtet blau gemustert auf dem schmutzigen Beton, vielleicht 20 Meter vom Polizeikordon entfernt, der den Haupteingang des Budapester Keleti-Bahnhofs (Ostbahnhof) bewacht. Darauf kniet Mohammed aus dem syrischen Aleppo, 27 Jahre alt, dem Osten zugewandt. Eine seltene Szene in diesen Wochen, in denen Flüchtlinge zu Abertausenden aus den islamischen Kriegsgebieten nach Europa strömen. Es liegt zwar nahe, hier, inmitten des Flüchtlingsdramas, gelegentlich an den lieben Gott zu denken. Aber wo soll man seinen Körper in diesem Chaos nach muslimischen Vorschriften vor dem Gebet reinigen? Wo den etwa 3000 Flüchtlingen, die hier seit zwei Tagen kampieren, nur ein paar Wasserhähne im U-Bahn-Zwischengeschoß zur Verfügung stehen - und dazu ganze vier mobile Toiletten? Es riecht hier so, dass es kaum auszuhalten ist für Beobachter, die das viel Schlimmere nicht kennen, dem diese Menschen entronnen sind: Krieg, Terror, Tod.
"Wir waren 36 Leute in dem Schlauchboot, das uns aus der Türkei nach Griechenland gebracht hat", erzählt Mohammed, der hier mit zwei Geschwistern, einem Cousin und einem Freund unterwegs ist - mit dem Ziel "Germany", wie die meisten seiner Leidensgenossen. "Wir fliehen vor dem Krieg." Die Jüngsten in der Gruppe sind 13 Jahre alt, Mohammed ist als Ältester der Anführer. Ihre Familien sind zu Hause geblieben und haben das Geld für die Reise für die Jüngeren zusammengekratzt: 3500 Euro für zwei Personen.
Wie die meisten der am Ostbahnhof ausharrenden Flüchtlinge hat auch Mohammeds Gruppe bereits Zugtickets nach München. Aber die nützen ihnen nichts. Denn Ungarn hat beschlossen, keine Flüchtlinge gen Westen weiterreisen zu lassen, und beruft sich dabei auf EU-Regeln, denen zufolge Asylanträge nur in dem Land gestellt werden dürfen, in dem die Flüchtlinge zuerst erfasst wurden. Noch am Montag war es anders gewesen: Budapest hatte kurzfristig alle Kontrollen eingestellt und tausende Flüchtlinge per Bahn nach Westen ausreisen lassen. "Können Sie uns sagen, was die Ungarn mit uns machen wollen?", fragt Mohammed.
Das kann derzeit in Ungarn niemand beantworten. Klar ist nur, dass Budapest demnächst den illegalen Grenzübertritt kriminalisieren will - die bisherige Ordnungswidrigkeit soll zur Straftat erklärt werden, die mit Gefängnis zu ahnden ist.
Aggressive Plakatkampagne gegen die Migranten
Auch scheint Ungarn regelrecht Jagd auf Flüchtlinge zu machen, die für ihren Weg nach Westen Umwege suchen. So wie jene Gruppe, die in der Nacht zum Mittwoch am Budapester Vorstadtbahnhof Köbanya-Kispest gefasst wurde. Die Menschen sollten laut ungarischer Anweisung in das völlig überfüllte Lager in Debrecen reisen. Stattdessen versuchten die Migranten, über den kleinen Bahnhof in einen Zug Richtung Österreich zu gelangen.
Am Ostbahnhof kauern und liegen die Menschen unterdessen, in der Hoffnung, dass es doch noch eine Chance auf freie Fahrt gibt. Es herrschen abenteuerliche Zustände. Manche haben kleine Zelte aufgestellt, die meisten hausen auf schlichten Decken, etliche auf dem blanken Boden. Es sind viele Kinder und Babys dabei, dazu etliche Rollstuhlfahrer. An Treppengeländern und auch sonst, wo immer es geht, hängt Wäsche zum Trocknen. Ein Wunder, dass es hier noch zu keinen größeren Konflikten gekommen ist.
Lange Schlangen bilden sich vor dem provisorischen Quartier der Freiwilligen-Organisation "Migration Aid", die Essen und Kleider verteilt und notdürftige medizinische Versorgung bietet. Ein Aufpasser bewacht die Tür vor den drängelnden Menschen. Sobald sie aufgeht, sieht man kurz einen Riesen-Kleiderhaufen in wildem Durcheinander. "Migration Aid" ist hoffnungslos überfordert. Ungarns Behörden beschränkten sich bisher darauf, das Bahnhofsgebäude zu bewachen. Erst am Mittwoch beschloss das Budapester Stadtparlament, neben dem Bahnhof ein Zeltlager zu errichten, das bis zu tausend Flüchtlinge aufnehmen kann. "Dies ist zwar nicht unsere Aufgabe, aber wir tun es aus Gewissensgründen, wir müssen die Situation zu unserem eigenen Schutz bewältigen", sagte Oberbürgermeister Istvan Tarlos, ein Parteifreund des rechtsnationalen Ministerpräsidenten Viktor Orban.
Es klingt, als wollte Tarlos sich beim Wählervolk dafür entschuldigen, dass er überhaupt etwas für Flüchtlinge tut. Denn bisher hat die Regierung mit einer aggressiven Plakatkampagne gegen Migranten Stimmung gemacht. An der Grenze zu Serbien, wo die meisten Migranten auf ihrer Durchreise herkommen, ließ die Regierung einen vier Meter hohen Zaun bauen, der die Migranten abwehren soll. Dieser erwies sich aber zunächst als ineffizient. Allein am Dienstag überwanden ihn wieder mehr als 2000 Flüchtlinge.
Keine medizinische Hilfe für die Flüchtlinge
Hadi aus Damaskus sitzt auf einer Decke inmitten von etwa 3000 Flüchtlingen, die hier seit mehr als 24 Stunden kampieren. Der dreijährige Junge guckt apathisch ins Dämmerlicht im Zwischengeschoss, das den Budapester Ostbahnhof mit der Metrostation verbindet. "Er leidet unter dem Down-Syndrom. Mein Kind ist sehr müde", sagt Rasha, Hadis Mutter. Es klingt untertrieben. Dann zieht sie Hadis T-Shirt hoch und entfernt kurz ein Pflaster am Bauch des Kindes. Darunter ist ein Loch, groß wie ein Zwei-Euro-Stück, etwas Rötliches quillt heraus. Es ist ein künstlicher Darmausgang.
Hadi müsste sofort zum Arzt. Doch daran ist im Moment nicht zu denken. Die insgesamt sechsköpfige Familie, darunter auch Hadis sechsjähriger Bruder, will schleunigst nach Schweden gelangen, wo der Rest der Familie wartet. Ungarische Helfer von der Organisation MigSzol sagen, dass viele Flüchtlinge ein präzises Zielland haben, weil dort schon Freunde oder Verwandte leben.
Während sich die Polizei darauf beschränkt, den Bahnhof zu bewachen und Migration Aid gegen das humanitäre Chaos ankämpft, finden sich immer wieder vereinzelte Helfer. So wie Anna, 39 Jahre alt und gerade Mutter geworden. An diesem Vormittag hat sie sich ein Herz gefasst und ein paar Hygieneartikel in eine große Tasche gepackt. Damit erscheint sie am Bahnhof. Sofort wird die blonde Frau von einer Kinderschar umringt, im Tumult fallen alle ihre Mitbringsel aus der Tasche. Was treibt sie zur Hilfsbereitschaft? "Ich bin Polin und auch als Fremde in diesem Land aufgenommen worden."