Ein Lebensabschnitt endet, ein Lebensabschnitt beginnt.
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Es ist mein letzter Weg. Ich gehe zu Fuß von meinem Mietzimmer zum Nationaltheater Brno. Ich bin schwer bepackt mit einer riesigen Sporttasche. In Gedanken gehe ich noch einmal meine seit mehr als einem Jahrzehnt zusammengetragene Liste der Utensilien durch, die ich für die "Schwanensee"-Vorstellung brauchen werde. Mein Make-up-Täschchen mit den falschen Wimpern ist drinnen, denn die Billigware der Maske kann man nicht verwenden, Haarnadeln sind da, blonde sind im Theater immer Mangelware, Sprungschuhe, das sind die weichen Schläppchen sowie zwei paar präparierte Spitzenschuhe und ein Handtuch. Der Traubenzucker darf nie fehlen. Das Ersatzspitzenschuhpaar wollte vorhin einfach nicht weich werden, als ich es im Rahmen der Türe einspannte und immer wieder die Türe schloss. Erst das Bad im Putzalkohol, in das Lavour stieg ich mit beiden Spitzenschuhen an den Füßen. Das hat geholfen. Zum Glück habe ich keine offenen Stellen mehr an den Zehen. Das war einmal. Da die Probensäle nicht direkt im Theater sind, muss man alles Zeug hin- und herschleppen. Aber nicht mehr lange. In der Erleichterung schwingt Wehmut mit.
Glühbirnen-Spielchen
Im Theater angekommen, werfe ich meine Sporttasche in das Eck neben meinen Garderobentisch. Ich drehe die acht Glühbirnen auf, die den Spiegel umranden. Jede zweite drehe ich wieder heraus. So genau muss ich mich nun auch wieder nicht sehen, und so viel Stromverbrauch muss wirklich nicht sein. Auch das ist ein tägliches Ritual geworden zwischen der Putzfrau und mir: Sie schraubt die Glühbirnen hinein, ich schraube sie wieder heraus. Die vielen Tage zuvor ärgerte ich mich. An diesem Tag lächle ich darüber. So ist das heute.
Schon tönt es durch alle Lautsprecher hinter der Bühne: "Verena zum Aufwärmen." Ich war so in Gedanken, dass ich jetzt erst sehe: Meine Kolleginnen sind schon bei Aufwärmtraining. Es ist mein letzter Weg dorthin.
Wie oft habe ich da wohl schon trainiert, überlege ich, während ich die Treppen zum Probensaal hinauflaufe. In Zahlen wohl nicht überschlagbar. Immerhin habe ich bereits mit sechs Jahren begonnen, heute bin ich fast 30. Eigentlich schon alt für eine Balletttänzerin, überlege ich.
Los geht es an der Stange: Plié, Tendu, Jeté, zuerst rechts dann links. Alles Routine. Die Gedanken schweifen wieder ab. Der Körper vollzieht die Übungen automatisch. Begonnen hat alles mit der Birgit. Es war in der ersten Klasse Volksschule. Sie durfte bei Irene-Margarita Rochowansky, der Frau Rochowansky, Ballettunterricht nehmen. Das wollte ich auch. Doch meine Mutter knüpfte eine Bedingung daran: Ich musste meine Aversion gegen den täglichen Schulbesuch aufgeben. Kein tägliches Sträuben mehr. Die liebevolle Erpressung wirkte sofort. Im Jänner 1980 startete ich meine Karriere. 23 Jahre sollte sie dauern. Eine Berufung war sie, kein Beruf. Ich verdiente Geld damit. Damals. Auch heute, gewissermaßen.
Eine Bonbonniere zum Abschied
Zurück in der Garderobe geht es ans Make-up, an die Frisur, und dann an die falschen Wimpern und den Kopfschmuck. Ein kurzer Besuch in der Maske. Einmal mehr wird alles abgesegnet. Man ist froh, sich um eine Tänzerin weniger kümmern zu müssen. Meine Kostüme hängen schon da. Die Garderobiere war wieder flott. Sie legt mir eine kleine Bonbonniere auf meinen Tisch. Sie hat Tränen in den Augen. Ich sowieso. Schon den ganzen Tag kämpfe ich gegen sie an.
Erster Akt: Hofgesellschaft. Mehr freue ich mich auf den zweiten Akt als Schwan. Heute tanze ich nur noch im Corps de ballet. Mehr lassen meine kaputte Wirbelsäule und die ständigen Schmerzen nicht mehr zu. Das rechte Knie ohne vorderes Kreuzband ist vor allem im "Schwanensee" einem hohen Risiko ausgesetzt. Reißen noch die anderen Bänder, muss ich auf den OP-Tisch. Diese Gefahr ist meine stete Begleiterin seit Jahren. Nicht mehr lange, dann werden diese Schmerzen besser werden. Neben dem Studium wird Zeit für die Physiotherapie bleiben.
Es war mein letzter "Schwanensee".
Es war mein Bühnenabschied. Ich habe ihn mit meinen Kolleginnen und Kollegen gefeiert. Obwohl mir nach Feiern nicht zu Mute war. Doch dieser alte Weg führte in eine Sackgasse. Sie öffnete sich zu einer neuen Berufung.
Diesen Artikel finden Sie in Printform am 30. Juni 2023 – ein letztes Mal – in Ihrer "Wiener Zeitung".