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Aushungern in Ungarn

Von WZ-Korrespondentin Kathrin Lauer

Politik

Der Staat verweigert Asylsuchenden die Nahrung. Sie sollen zur Ausreise nach Serbien bewegt werden.


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Budapest. Drei Jahre nach dem Bau des Zauns an den Grenzen zu Serbien und Kroatien hat sich Viktor Orbans Ungarn ein neues Mittel zur Abschreckung der Flüchtlinge einfallen lassen: Hunger. Das Ungarische Helsinki-Komitee schlug am Freitag Alarm. Seit Neuestem bekommen Flüchtlinge, deren Asylantrag in erster Instanz abgelehnt wurde und die dagegen Berufung eingelegt haben, keine Nahrung mehr in den geschlossenen Transitzentren, in denen sie leben. Es stehe ihnen aber frei, nach Serbien zu gehen, teilte das ungarische Amt für Immigration und Asyl den Betroffenen mit. Verschont von der Hungerkur werden nur Kinder und stillende Mütter.

Das Budapester Helsinki-Komitee hat aber erwirkt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg einschreitet. In drei Fällen mit insgesamt sechs Betroffenen verdonnerte das Gericht den ungarischen Staat zu vorübergehenden Erleichterungen. Das heißt, diese sechs Menschen bekommen jetzt doch etwas zu essen, bis über ihren Asylantrag endgültig entschieden wird.

Verschärftes Asylrecht

Doch das neue ungarische Hunger-Prozedere hat System. Das Immigrationsamt begründet diese Praxis damit, dass der Staat nur dazu verpflichtet sei, anerkannte Flüchtlinge in deren Sammelunterkünften mit Essen zu versorgen, nicht aber jene in den Transitzonen, deren Status ungeklärt ist. "Gerade heute Morgen hatten wir einen weiteren Fall", sagte der Leiter des Flüchtlingsprogramms beim Helsinki-Komitee, Andras Lederer. "Es ist eine afghanische Familie mit zwei kleinen Kindern. Eines ist anderthalb Jahre alt, das andere ist fünf Monate alt und wird von seiner Mutter gestillt. Mutter und Kinder bekommen Nahrung, aber der 26-jährige Vater nicht." Das Helsinki-Komitee will auch diesen Fall in Straßburg vorbringen. "Ich hoffe, dass der EGMR spätestens an diesem Montag entscheidet. Und dass der Vater doch noch heute Abend etwas zu essen bekommt."

Lederer rechnet mit weiteren derartigen Fällen, weil noch mehr abgelehnte Asylanträge zu erwarten seien. In Ungarn ist seit dem 1. Juli ein verschärftes Asylrecht in Kraft, wonach Anträge von Flüchtlingen, die aus sicheren Drittstaaten kommen, automatisch abgelehnt werden. Das benachbarte Serbien wird dabei als sicher eingestuft. Diese Neuregelung ist einer der Gründe für das neue Verfahren, das die EU-Kommission am 19. Juli gegen Ungarn eingeleitet hat. Angewendet werden dessen Bestimmungen erst seit Mitte August.

Die Betroffenen haben laut Lederer kaum Chancen, in zweiter Instanz ihre Anerkennung als asylberechtigter Flüchtling zu bekommen, denn die Einspruchsfristen seien viel zu kurz. Der Antragsteller kann gegen die Ablehnung seines Asylgesuchs binnen drei Tagen beim Immigrationsamt Einspruch erheben. Lehnt das Amt diesen Einspruch ab, kann der Kandidat sofort abgeschoben werden, auch wenn er sich vor seiner Abschiebung noch an ein ungarisches Gericht wendet, wozu er das Recht hat. Das Gericht muss binnen acht Tagen entscheiden. Seit dem 28. März 2017 dürfen Flüchtlinge, die noch nicht als Asylberechtigte anerkannt sind, nur in einem der zwei Transitzentren an der ungarisch-serbischen Grenze wohnen. Dort führt für die Kandidaten mit ungeklärtem Status nur eine Tür - nach ungarischem Recht legal - nach draußen, und zwar auf serbisches Territorium. Wer also den Hunger nicht mehr erträgt, kann nur noch nach Serbien gehen. Menschenrechtsorganisationen haben keinen Zugang zu diesen Transitzonen. Ungarn hat bereits vor Monaten jeden Akt der Hilfe für nicht anerkannte Flüchtlinge kriminalisiert, Zuwiderhandelnden droht Gefängnis.

Essen in getrennten Räumen

Klar ist auch, dass es dem ungarischen Staat nicht darum geht, Kosten für die Verpflegung der Flüchtlinge einzusparen, sondern explizit darum, die Menschen hungern zu lassen. Bei den sechs Betroffenen, für die das Helsinki-Komitee die Versorgung mit Nahrung erwirkt hat, handelt es sich um drei Männer und eine Frau aus Afghanistan, die sich auf zwei Familien verteilen, sowie um zwei Brüder aus Syrien. Die ganze Dimension der Grausamkeit erschließt sich, so das Helsinki-Komitee, aus den Details der Essensausgabe: Die Kinder und die stillende Mutter bekamen in einem von den übrigen Erwachsenen getrennten Raum ihre Mahlzeiten. Damit sollte verhindert werden, dass die Kinder und Frauen den zum Fasten Verurteilten etwas von ihrem Essen abgeben.