Die kleinsten Bausteine könnten die Medizin verändern. Wenn genug Geld in Forschung fließt, sagt Molekularbiologe Superti-Furga.
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Jeder Mensch ist einzigartig bis in die kleinsten Bausteine, die Zellen. Die Medizin kennt daher kein Rezept für alle. Da aber jeder die bestmögliche Behandlung erhalten soll, arbeiten Molekularbiologen an neuen Therapien. Sie erforschen, welche Moleküle bei Krankheiten eine Rolle spielen, wie diese Moleküle im Körper funktionieren und welche Medikamente auf sie einwirken. Das Ziel sind unterschiedliche Wirkstoff-Kombinationen für jeden Menschen oder zumindest jeden Typ. Giulio Superti-Furga, Wissenschaftlicher Direktor des Forschungszentrums für Molekulare Medizin (CeMM) der Akademie der Wissenschaften, gibt Einblick, was davon zu erwarten ist. Er wünscht sich dezidierte Investitionen der öffentlichen Hand für Wissenschaft und Forschung.
"Wiener Zeitung": Die Medizin sucht nach eigene Therapien für jeden Patienten oder zumindest jeden Patiententyp. Wie weit ist sie damit?Giulio Superti-Furga: Wir setzten unsere Forschung in einem ersten Projekt um. In einer vorläufigen Analyse unserer neusten Studie haben wir zusammen mit der Medizinuni Wien 17 Blutkrebs-Patienten im fortgeschrittenen Stadium Blutproben entnommen. Dann haben wir mit einer Mikroskopie-Methode die Wirkung von 150 Substanzen im Blut getestet. Die Ergebnisse können wir binnen 48 Stunden an die Klinik weiterleiten.
Was zeigt das Verfahren?
Es zeigt den Effekt von Wirkstoffen auf kranke und gesunde Zellen. Es bietet eine zusätzliche Entscheidungsgrundlage für Ärzte, um die beste, wirkungsvollste Behandlung unter Berücksichtigung von Allgemeinzustand und Verträglichkeit zu wählen. Die bildgebende Methode könnte die Wahrscheinlichkeit, dass es Patienten besser geht, um ein Mehrfaches gegenüber jenen Menschen erhöhen, die den Test nicht machen.
Funktioniert der Test auch bei anderen Krankheiten?
Wir gehen davon aus, dass der Test für viele, vielleicht alle Blutkrebsarten mit hoher Genauigkeit Medikamente identifizieren kann, die im Patienten am besten wirken könnten. Er meldet, welche Zellen wie auf welche Wirkstoffe reagieren. Das gibt uns neue Forschungsgrundlagen. Im Blut bildet sich viel ab, daher werden wir hoffentlich bald wissen, ob das System auch bei anderen Erkrankungen funktioniert. Wir hoffen, dass es etwa auch bei Autoimmunerkrankungen hilfreich sein könnte.
Wann wird jeder Mensch seine eigene Therapie bekommen?
Zugelassene Medikamente kann man schon jetzt bei bestimmten Erkrankungen individuell zusammenstellen - so wie der Apotheker früher. Wir gehen aber davon aus, dass die meisten Österreicherinnen und Österreicher in 15 Jahren ihr Genom kennen werden. Schon jetzt gibt es diagnostische Zwecke, wo es hilfreich wäre, sich das ganze Genom anzuschauen, damit eine geeignete Behandlung gegeben werden kann. Ob irgend wann jeder einzelne Mensch eine eigene Mischung und Dosierung von Pharmaka bekommt, ist offen, denn es spielen viele Faktoren mit: Ältere Menschen metabolisieren etwa anders als Teenager und Frauen anders als Männer. Auf jeden Fall werden wir immer präziser vorgehen können bei Krankheiten, deren molekulare Grundlagen wir verstehen. In zehn Jahren werden wir wahrscheinlich die Mehrheit der Tumorarten zielgruppenspezifisch behandeln können. Das Gleiche gilt für das metabolische Syndrom Diabetes Typ 2.
Auch das Darm-Mikrobiom wirkt auf die Gesundheit ein. Beeinflusst es die Wirkung von Medikamenten?
Das Mikrobiom ist ein Dialog zwischen Umwelt und der eigenen Identität, die mit der Geburt gegeben ist. Einerseits ist es davon bestimmt, mit wem wir verkehren und ob wir etwa Haustiere haben. Andererseits ist es genetisch angelegt. Wir können noch nicht sagen, wie viele Erkrankungen vom Mikrobiom beeinflusst werden. Klar ist, dass es Entzündungen im Magen-Darm-Trakt hervorrufen kann, die wir behandeln können, indem wir die Darmflora beeinflussen. Zudem gibt es wahrscheinlich psychische Erkrankungen, bei denen es eine Rolle spielt.
Bakterien als Medizin?
Es gibt hunderte Bakterienarten. Daher gibt es einen Cocktail an Behandlungen beim Mikrobiom. Künftig wird man messen, welche Organismen im Stuhl, im Körper, im Magen und im Darm leben, und ob man bestimmte Bakterien als Therapie einführen sollte. Die Varianten reichen von Medikamenten und probiotischen Kulturen bis hin zum eigenen Kot. In einer weiter entfernten Zukunft könnte man überlegen, bestimmte Organismen genetisch so zu manipulieren, dass sie der Gesundheit nützen. Und wer weiß? Vielleicht haben wir im Jahr 2030 alle einen wohlriechenden Atem, weil wir unsere Mundflora mit duftenden Bakterien kolonialisieren lassen, um weniger Karies, Mund- und Rachenkrebs zu bekommen.
Welche Visionen haben Sie noch?
Wir werden stärker teilnehmen an unserer eigenen Diagnose. Seit jeher stellen wir uns auf die Waage, doch heute gibt es Apps, die den Gesundheitszustand auswerten. Und in Zukunft werden Maschinen sogar lernen, Gesichtszüge zu deuten. Man weiß bereits, dass gewisse Vorstufen von Depression an den Mundwinkeln abzulesen sind und man Demenzzustände anhand der Geschwindigkeit und Geschmeidigkeit von Bewegungen voraussagen kann. Künftig könnte ich täglich den Computer fragen, wie es mir geht. Nach der millionsten Auswertung von Datensätzen könnte der vielleicht Veränderungen des Gesundheitszustands genau melden. Die Menschen sollten in Zukunft daher ihre Genome und ihre Mikrobiome kennen, um mindestens so viel über sich selbst zu wissen wie der Computer, das Handy und deren Betreiber.
Schmetterlingskinder haben eine extrem verletzliche Haut. Die Haut einer kleinen Patientin konnte jüngst genetisch verbessert werden. Was kommt als Nächstes?
Ethisch werden die meisten wohl zustimmen, dass körperlich behebbare Erkrankungen wie diese zu heilen sind. Die Frage wird sein, wer es sich leisten kann. Denn wenn eine personalisierte Gen-Reparatur 300.000 Euro kostet, wird man sich gut überlegen, ob es Alternativen gibt. Damit die Gesellschaft informierte Entscheidungen dazu treffen kann, müssen wir in Bildung investieren.
Wo sehen Sie im Bildungssystem Verbesserungsbedarf?
Man sollte das Schulwesen aufwerten. Die Gehälter der Lehrerinnen und Lehrer sollten zu den höchsten zählen, damit die cleversten Köpfe das Wichtigste und Wunderbarste tun: Menschen Wissen und Denken lehren. Leider werden besonders die Naturwissenschaften in Europa nebensächlich unterrichtet. Das müssen wir ändern, denn die größten Veränderungen kommen von Innovation.
Ein Beispiel?
Denken Sie an Facebook und Amazon. Weil wir in der Vergangenheit nicht genug in Forschung und Innovation investiert haben, müssen wir die Lösungen amerikanischer Konzerne importieren, die jetzt unser Leben bestimmen, weil wir unsere Datensätze gar nicht auswerten können. Wenn wir nicht anfangen, Forschung und Innovation als hochprioritär zu betrachten, werden wir immer mehr zu Kunden und Versuchskaninchen anderer Initiativen und Zuschauer im Weltgeschehen.
Ihre Wünsche an die künftige Bundesregierung?
Um die Zukunft zu gestalten, müsste Österreich dezidierter investieren. Unser Forschungspfad, bis 2020 insgesamt 3,76 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in Forschung zu investieren, wäre wunderbar. Aber anstatt bloß mehr Gelder über die Forschungsprämie (Steuererleichterung für forschende Unternehmen, Anm.) zu vergeben, sollte hauptsächlich exzellente Grundlagenforschung und anwendungsorientierte Uni-Forschung gefördert werden. Denn Wohlstand kann man nicht erfinden, sondern er beruht auf neuen Lösungsansätzen auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Ich wünsche mir ein großes Zeichen in Form eines überparteilichen, langfristigen Paktes mit einem garantierten Forschungsbudget über zehn Jahre, der Österreich in der Grundlagenforschung weit nach oben bringt. Weiters müsste das EU-Forschungsbudget verdoppelt werden.