Die Atomindustrie befindet sich auf dem absteigenden Ast, sagt Energieexperte Mycle Schneider.
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Wochenlang wurde eine hitzige Debatte darüber geführt, ob Gas und Atomkraft ein grünes Label bekommen sollen. In der sogenannten EU-Taxonomie will die EU-Kommission die beiden Energieträger als nachhaltige Brückentechnologien für Finanzinvestitionen einstufen. Am Mittwoch soll dies nun - trotz vielfacher Kritik und der von Österreich angedrohten Klage - endgültig beschlossen werden.
Atomkraft ist plötzlich wieder im Gespräch. Die Gräben zwischen Befürwortern und Gegnern könnten nicht tiefer sein. Groß ist allerdings auch der Graben zwischen der öffentlichen Wahrnehmung von Atomkraft und der Realität. "Die Menschen stellen sich vor, dass überall Atomkraftwerke gebaut werden. Das ist nicht der Fall", sagt der Energieexperte Mycle Schneider bei einem von den Grünen initiierten Hintergrundgespräch.
Zahlen, um das zu untermauern, hat er genug. 2020 ging zum ersten Mal seit 2012 die globale Energieerzeugung aus Atomkraft um 3,9 Prozent zurück. Derzeit sind weltweit 412 Reaktoren in Betrieb - so viele wie es schon vor über 30 Jahren gab. Im Zeitraum 2011 bis 2021 gingen 69 Reaktoren ans Netz (40 davon in China), genauso viele wurden allerdings auch abgeschaltet. Mehr als die Hälfte aller weltweiten Neubauten (55) befinden sich in China (20) und Indien (8). "Wenn man China herausnimmt, passiert gar nichts in der Welt", sagt Schneider.
Atomindustrie in der Krise
Der Energieberater veröffentlicht seit 2007 den "World Nuclear Industry Status Report", eine Art Jahrbuch der Atomindustrie. Um diese sei es Schneider zufolge nicht gut bestellt. Sie befinde sich auf dem absteigenden Ast. Die Kosten für Atomkraftwerke (AKW) explodieren, die Errichtung dauert länger als geplant. Im Vergleich zu Erneuerbaren ist Atomkraft nicht konkurrenzfähig.
Doch warum dauert es eigentlich so lange, ein AKW zu bauen?
Die großen Atomkraftnationen USA, Großbritannien und Frankreich bauten in den 1970er und 80er Jahren AKWs in Serie. "Da wurden hochqualifizierte Teams von einer Baustelle zur nächsten geschickt", erzählt Schneider. Das gebe es heute nicht mehr - außer in China. Die Volksrepublik sei nun in dieser Situation und könne die gesamte Brennstoff- und Lieferkette bereitstellen. Ein wesentlicher Grund für die Zeitverzögerung seien Qualifikations- und Qualitätsprobleme. Auf Baustellen mit Arbeitern aus 50 Nationen komme es zu Sprachbarrieren und Missverständnissen. Beton muss neu gegossen, Schweißnähte neu gemacht werden. "Die Qualität entspricht nicht den Anforderungen. In China geht das schneller", so Schneider.
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Frankreichs befinde sich laut dem Energieexperten in der Krise. 56 AKW erzeugen 70 Prozent des Strombedarfs. Die Reaktoren sind im Schnitt 36 Jahre alt, sie haben also in wenigen Jahren ihre maximale Laufzeit erreicht. Laut Berechnungen von Schneider lieferte jeder französische Reaktor im Schnitt an 115,5 Tagen keine Energie. "Frankreich wirft alte Kohlekraftwerke wieder an, weil die Atomtechnik nicht verlässlich ist. Das belastet das Klima zusätzlich", sagt Martin Litschauer, Anti-Atomsprecher der Grünen.
Laut Zahlen des französischen Rechnungshofs müsste der Betreiber Électricité de France (EDF) bis 2030 100 Milliarden Euro in die Kraftwerke investieren. "Frankreich steckt nicht nur in Einzelbereichen in einer tiefen systemischen Krise", sagt Schneider. Es sei ein Kartenhaus, das von verschiedenen Ecken aus zusammenfallen kann.
Die umstrittene Taxonomie würde laut Schneider beim Neubau von AKWs keine Rolle spielen. "In der Praxis ist das bei den Laufzeitverlängerungen relevanter."