Aufgabe wird weniger die Rechtsvereinheitlichung in Europa, sondern Durchsetzung des Rechts sein.
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Vor einhundert Jahren bezeichnete der in Wien geborene und promovierte Franz von Liszt die Vereinheitlichung der Strafgesetzgebung als "eine Aufgabe, nicht der unmittelbaren Gegenwart, wohl aber der allernächsten Zukunft." Liszt, der nach seinen Wiener Jahren in Deutschland eine beispiellose akademische Karriere machte, richtete seine Forderung zunächst auf die sogenannten Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn. Jedoch dachte er über die Kriegszeit hinaus und sah durchaus die Möglichkeit, andere europäische Staaten in das Projekt einzubeziehen. Liszt eilte seiner Zeit weit voraus. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein hielten die Mitgliedstaaten das Strafrecht für ihre domaine réservé, zumal ihm eine besonders enge Bindung an die Kultur attestiert wurde.
Die Bindung des Strafrechts an die Nationalstaaten löste sich erst in den 1990er Jahren auf. Ausschlaggebend dafür waren zwei Entwicklungen: Zum einen ließ die Mobilität von Menschen, Waren und Daten grenzüberschreitende Räume entstehen, in denen ein Staat nicht mehr für die Durchsetzung des Rechts sorgen kann. Infolgedessen bauen die Staaten seit Jahrzehnten ihre Kooperationen aus, um ihren Ordnungsanspruch in einer veränderten Kriminalgeografie einlösen zu können. Zum anderen hat der Vertrag von Maastricht mit der EU eine Organisation geschaffen, die sich schon bald um die Ausweitung ihrer strafrechtlichen Kompetenzen bemühte. Dies geschah sicherlich auch aus sachlichen Erwägungen: dem Kampf gegen die grenzüberschreitende Kriminalität. Vor allem aber verfolgte die Europäische Kommission politische Ziele. Da das Recht zur Strafrechtssetzung als Ausdruck (staatlicher) Souveränität gilt, stieß die Kommission auf dieses Terrain vor und machte damit deutlich, dass die Mitgliedstaaten ihre Souveränität fortan zu teilen haben.
Im Vertrag von Lissabon wurden der EU weitreichende Kompetenzen zur Harmonisierung des Strafrechts zugebilligt. So kann die EU Mindestvorschriften für Kriminalitätsbereiche wie den Terrorismus, die Korruption oder die organisierte Kriminalität festlegen. Außerdem kann sie immer dann eine Harmonisierung veranlassen, wenn dies zur Durchsetzung ihrer Politik auf anderen Gebieten unerlässlich ist. Damit ist der potenzielle Geltungsbereich des europäischen Strafrechts so groß wie die Gesamtkompetenzen der EU. Abgerundet wird das Kompetenzset durch Art. 325 AEUV, der den Schutz finanzieller Interessen der Europäischen Union mit Hilfe europäischen Strafrechts erlaubt.
Blickt man auf die vielfältigen Kompetenzen der Europäischen Union und bezieht die Tätigkeit internationaler Organisationen wie den Vereinten Nationen und dem Europarat ein, muss man konstatieren, dass die nationale Kriminalpolitik ein Auslaufmodell ist. So machten internationale Übereinkommen eine Verschärfung des (deutschen) Tatbestandes gegen die Abgeordnetenbestechung notwendig. Auch hinter der Erstreckung der Bestechungsdelikte auf europäische Amtsträger steht ein EU-Übereinkommen. Ein EU-Rahmenbeschluss hat in Deutschland zu einer lange umkämpften Ergänzung des Straftatbestandes gegen Bestechung im geschäftlichen Verkehr geführt. Gegenwärtig plant die deutsche Bundesregierung Vorschriften gegen Korruption im Sport, hinter denen ein Übereinkommen des Europarates steht.
Geflecht europäischer und internationaler Rechtsakte
Was für Deutschland gilt, trifft auch für die übrigen europäischen Staaten zu: Sie sind in einem Geflecht europäischer oder internationaler Rechtsakte eingebunden, das ihnen bei der Ausgestaltung nationaler Straftatbestände nur kleine Ermessensspielräume belässt. Betroffen sind so unterschiedliche Bereiche wie das Finanzmarkt- und Antiterrorstrafrecht, die Geldwäschebekämpfung und Umweltvergehen. Auch diese Gebiete waren beziehungsweise sind Gegenstand einer intensiven überstaatlichen Rechtssetzungsarbeit, die nicht selten auf der Ebene der Vereinten Nationen beginnt, ihren Weg häufig über den Europarat zur EU und sodann in die nationalen Parlamente findet, die das international verpflichtende Recht umzusetzen haben. Ein Ende der Entwicklung ist nicht abzusehen.
Schon heute ist Liszts Traum von einem einheitlichen europäischen Strafrecht Realität geworden. Die Rechtsvereinheitlichung in Europa ist nicht das Ergebnis eines großen Wurfs, einer Kodifikation, sondern das Resultat einer Vielzahl kleiner Harmonisierungsmaßnahmen. Liszt, der im Jahrhundert der Nationalstaaten und Kodifikationen sozialisiert wurde, konnte sich diese Form der Rechtsvereinheitlichung qua überstaatlicher Rechtssetzungsinstanzen nicht vorstellen. Und doch sind auf diesem Weg Strafgesetzbücher entstanden, die sich zwar in Form und Sprache unterscheiden, deren Inhalte aber in den praktisch bedeutsamen Partien gleich sind.
Uneinheitliche Rechtsdurchsetzung
Verbleibende Unterschiede im materiellen Strafrecht finden sich vor allem in zwei Gebieten. Zum einen in dem Bereich, der tatsächlich einen engen Bezug zur Kultur und Geschichte der Staaten aufweist: Man denke an das Sterbehilferecht oder das Recht des Schwangerschaftsabbruchs. Und zum anderen im sogenannten Kernstrafrecht, das heißt: beim Schutz von Leib, Leben, Eigentum. Jedoch sind diese Unterschiede der nationalen Gesetzgebungsgeschichte und der nationalen Dogmatik geschuldet und ihre praktischen Auswirkungen begrenzt.
Von erheblicher Relevanz ist hingegen die uneinheitliche Rechtsdurchsetzung in Europa. Wird das Recht uneinheitlich angewandt, entstehen nicht nur Gleichheits- und Gerechtigkeitsprobleme; auch das Projekt der Rechtsvereinheitlichung zur Schaffung eines einheitlichen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird unterlaufen. Zudem nimmt auch die Institution Schaden, die das Recht gesetzt hat, wenn eben dieses Recht auf nationaler Ebene nicht oder nur unzureichend durchgesetzt wird. Dennoch ist eine ungleiche Rechtsdurchsetzung in Europa weit verbreitet, wie an drei Beispielen verdeutlicht werden soll.
Eine Vielzahl europäischer Rechtsakte verlangt "wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen" für Rechtsverstöße juristischer Personen. Diese Verpflichtung setzen die Mitgliedstaaten unterschiedlich um. In Deutschland zum Beispiel können - anders als Österreich - bislang noch keine strafgerichtlichen Verfahren gegen Unternehmen geführt, sondern nur Bußgelder verhängt werden. Von dieser Möglichkeit wird in Deutschland sehr unterschiedlich Gebrauch gemacht, weil die Einleitung und Fortführung der Verfahren gegen juristische Personen nicht von klaren Regeln abhängt, sondern von Zufälligkeiten wie Ausbildung, Ausstattung und Motivation der Staatsanwälte. Aus anderen europäischen Staaten wird ähnliches berichtet. Infolgedessen verliert die EU an Glaubwürdigkeit, da sie ihrer Rede von "wirksamen und abschreckenden Sanktionen" keine Taten folgen lässt.
Das zweite Beispiel bildet die sogenannte "Tarrico"-Entscheidung des EuGH, die der stolzen Italienischen Republik nicht zur Ehre gereicht. Denn die italienischen Strafgerichte waren nicht in der Lage, Steuerstraftaten in der für sie geltenden Verjährungsfrist von bis zu neun (!) Jahren zu beenden, sodass die Straffreiheit die Regel war. Dieses Rechtsdurchsetzungsdefizit hat auch eine europäische Konnotation, da sich die EU über einen Anteil am Umsatzsteueraufkommen finanziert. Um die finanziellen Interessen der EU wirksam schützen zu können, erklärte der EuGH vor eineinhalb Jahren die italienischen Verjährungsregeln kurzerhand für nicht anwendbar.
Verbot der Bestechung im Ausland kein gelebtes Recht
Ein letztes Beispiel: Die OECD Working Group on Bribery attestiert lediglich Deutschland und dem Vereinigten Königreich ein "active enforcement" des Übereinkommens gegen die Bestechung ausländischer Amtsträger im geschäftlichen Verkehr. Anders gewendet: In 26 Mitgliedstaaten der EU ist das Verbot der Bestechung im Ausland kein gelebtes Recht. Auch in anderen Bereichen der Korruptionsbekämpfung bestehen erhebliche Rechtsdurchsetzungsunterschiede. Dabei lassen sich die Folgen von Korruption und schlechter Regierungsführung innerhalb der tief integrierten EU nicht in einzelne Staaten isolieren. Vielmehr treffen die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Institutionenversagen auch andere Mitgliedsstaaten.
Die Beispiele deuten an, dass die Aufgabe der Zukunft weniger in der Rechtsvereinheitlichung in Europa liegt, sondern in der Durchsetzung des Rechts. Dazu bedarf es auch der Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, wie sie von Art. 86 AEUV vorgesehen und von einer kleinen Gruppe progressiver Staaten gegenwärtig auch vorangetrieben wird. Die Europäische Staatsanwaltschaft sollte sich jedoch nicht mit dem Schutz der finanziellen Interessen der EU begnügen, sondern ihre Arbeit auf sämtliche Fälle erstrecken, die eine grenzüberschreitende Dimension im Sinne des Art. 83 AEUV aufweisen. Denn erst wenn die Bedingungen für eine gleiche Anwendung des Rechts in Europa geschaffen sind, kann die EU als ein Raum des Rechts bezeichnet werden.
Der Text ist eine gekürzte Fassung eines Vortrages vor der Europäischen Präsidentenkonferenz der Rechtsanwaltsorganisationen am 24. Februar in Wien.
Michael Kubiciel ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Strafrecht der Universität zu Köln. Er berät regelmäßig internationale Organisationen und die Europäische Kommission auf dem Gebiet des Antikorruptions- und Wirtschaftsstrafrechts.