Einige gängige Aussagen zu diesem Thema sind stark zu hinterfragen.
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Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die internationale Völkerrechtsordnung und Sicherheitsarchitektur, die nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs mühsam aufgebaut und in Geltung gesetzt wurde, in ihren Grundfesten erschüttert. Die westliche Staatengemeinschaft, zu der auch Österreich zählt, hat die aggressive Politik Russlands in den vergangenen beiden Jahrzehnten viel zu wenig ernst genommen und wollte nicht wahrhaben, wie brutal der Kreml russische Großmachtambitionen verfolgt hat.
Ungeachtet all dieser Entwicklungen, die in den wichtigsten Hauptstädten wohl seit langem bekannt waren, mangelte es der transatlantischen Gemeinschaft (USA, Nato, EU) bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine an einer einheitlichen und entschlossenen Russland-Politik. Lange Zeit wurden die Sorgen der einflussreichen westlichen Staaten über Moskaus aggressives Verhalten in der Weltpolitik durch das überragende Interesse an einer engen Kooperation mit Russland - vor allem im wirtschaftlichen Bereich - verdrängt. Dies führte unter anderem in Westeuropa zur exorbitanten Abhängigkeit von russischen Öl- und Gasexporten, von denen gerade Österreich ein Lied zu singen weiß.
Erst die durch den Angriff Russlands auf die Ukraine ausgelöste Schockstarre führte plötzlich zu einer radikalen Neubesinnung der westlichen Demokratien in Bezug auf ihr Verhältnis zu Russland unter Wladimir Putin. Lautete das Leitmotiv für das Verhältnis des Westens zu Russland vor dem 24. Februar 2022, "Russland ist strategischer Partner der EU und der NATO" und "Es kann keine europäische Sicherheit gegen Russland geben, sondern nur eine gemeinsame Sicherheit mit Russland", so schuf Putins Angriffskrieg eine neue Realität.
Während die Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg gegen den Aggressor buchstäblich um ihre Existenz kämpft, hat der Westen sein Verhältnis zum Kreml neu definiert. "Sicherheit vor Russland" lautet jetzt die Devise. Die äußerst ernste Bedrohung, die der russische Angriff für die östliche Flanke der EU- und Nato-Mitgliedstaaten darstellt, motivierte Finnland und Schweden, von der Neutralität abzugehen und für die Nato-Mitgliedschaft zu optieren.
Wo steht Österreich in der gegenwärtigen Lage, die sich grundsätzlich von jener unterscheidet, in der die österreichische Außen- und Sicherheitspolitik die Friedensdividende der Neutralität bisher in aller Ruhe lukrieren konnte? Gestern, heute und morgen neutral geht sich ganz offensichtlich seit dem 24. Februar 2022 nicht mehr aus. Ein Kassensturz tut not.
Kein sachlicher Diskurs
Bevor an dieser Stelle in der gebotenen Kürze eine Standortbestimmung der Sicherheitspolitik Österreichs versucht wird, erscheinen drei Vorbemerkungen angebracht. Erstens krankt jede Debatte über dieses Thema am Übelstand, dass die offiziellen Vertreter der wichtigsten politischen Parteien, mit Ausnahme vielleicht der Neos, die Neutralitätsfahne hochhalten, weil sie im Lichte der konstanten Ergebnisse von Meinungsumfragen der Ansicht sind, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung befürworte die Beibehaltung der Neutralität, folglich sei bei Wahlen mit deren Infragestellen nichts zu gewinnen.
Zweitens ist dem österreichischen Durchschnittsbürger nicht bewusst, dass unser Neutralitätskonzept durch den EU-Beitritt Anfang 1995 in verfassungsrechtlicher und politischer Hinsicht auf einen bescheidenen Restbestand (kein Nato-Beitritt, keine fremden Militärstützpunkte auf österreichischem Gebiet) reduziert wurde. Drittens ist dieses Unwissen weniger den Österreichern in ihrer Gesamtheit anzulasten als generell dem Defizit an politischer Bildung in den höheren Schulen, dem Mangel an öffentlicher Information über außenpolitische Themen und dem in der Regel geringen Interesse unserer gewählten Volksvertreter für Fragen der internationalen Politik.
Fakten zur Neutralität
Dass auf diese Weise kein sachlicher Diskurs über Österreichs Europa- und Sicherheitspolitik zustandekommt, verwundert nicht. Auch die Medien haben ihren Anteil daran, dass sich die Österreicher wenig bis gar nicht für Fragen der internationalen Politik beschäftigen, sofern diese nicht unmittelbar ihren Lebenskreis und ihr Wohlbefinden nachteilig betreffen.
Vor diesem Hintergrund seien die folgenden Leitsätze über die Konturen der österreichischen Neutralität im gegenwärtigen Kontext der internationalen Politik formuliert. Mögen diese zur Information oder zur Schließung von Erinnerungslücken dienen und zum Nachdenken anregen:
Österreich ist völkerrechtlich nicht zur Beibehaltung der Neutralität verpflichtet und kann diese, wenn gewünscht, jederzeit abändern beziehungsweise aufgeben. Innerstaatlich bedürfte eine allfällige Beendigung aus verfassungsrechtlicher Sicht keiner Volksabstimmung, wiewohl eine solche aus poltischen Überlegungen angezeigt erschiene.
Die Neutralität wurde Österreich nicht im Staatsvertrag aufgezwungen, sondern durch einen innerstaatlichen Rechtsakt (Beschluss des Neutralitätsgesetzes am 26. Oktober 1955) begründet.
Österreichs Neutralität unterscheidet sich von jener der Schweiz. Bereits 1955 wurde das neutrale Österreich als Mitglied der UNO aufgenommen. 1995 trat Österreich der EU ohne Neutralitätsvorbehalte mit allen Rechten und Pflichten eines Vollmitglieds bei.
Der EU-Beitritt wurde auf Ebene der österreichischen Rechtsordnung durch eine Verfassungsnovelle begleitet. In der geltenden Fassung handelt es sich um Artikel 23 j des Bundesverfassungsgesetzes. Diese Bestimmung hat für die rechtlichen Parameter der österreichischen Neutralität große Bedeutung. Sie besagt in einfacher Sprache ausgedrückt nicht weniger, als dass diese für den gesamten Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), zu der die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zählt, nicht mehr gilt.
Österreich ist hinsichtlich des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine nicht neutral, sondern steht gemeinsam mit seinen EU-Partnern auf der Seite des Opfers der russischen Aggression und hat allen im Rahmen der GASP von der EU beschlossenen Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine zugestimmt. In Bezug auf die Lieferung lethaler Waffen hat Österreich vom Recht der konstruktiven Enthaltung, wie es im EU-Recht vorgesehen ist, Gebrauch gemacht, ohne die betreffenden Beschlüsse zu behindern. Österreich hat auch alle aller von der EU gegen Russland beschlossenen Sanktionsmaßnahmen mit seinem positiven Votum mitgetragen.
Auf die Ukraine bezogen sollte Österreich auch bei der Beseitigung von Antipersonenminen auf ukrainischem Territorium seine Unterstützung anbieten, wobei klarzustellen ist, dass es sich bei der Entminung um eine rein humanitäre Tätigkeit abseits der Gefechte an der Frontlinie handelt. Mit der Neutralität hat eine solche Aktion nichts zu tun.
Nach dem geltenden EU-Recht (Artikel 42 Absatz 7 des Vertrag von Lissabon) besteht für Österreich im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates eine Beistandsverpflichtung. Österreich sollte dieser Solidarverpflichtung gerecht werden und sich im Ernstfall nicht auf die "irische Klausel" berufen, die neutralen Staaten ein juristisches Schlupfloch für eine Nichtbeteiligung an gemeinsamen Verteidigungsmaßnahmen bietet.
Die Behauptung, Österreichs Neutralität sei ein Teil unserer Identität, verdient es, hinterfragt zu werden. Für Österreich treten nämlich zunehmend die Solidaritätsverpflichtungen eines EU-Mitglieds in den Vordergrund und verdrängen das traditionelle Konzept der Neutralität (je mehr Solidarität desto weniger Neutralität). Damit verdünnt sich naturgemäß der Sinngehalt der Neutralität als identitätsstiftender Faktor.
Für Österreich stellt die Neutralität unter den gegebenen Verhältnissen im Falle eines militärischen Angriffs keinen effektiven Sicherheitsfaktor dar. Allein auf sich gestellt, kann es mit den derzeit einsatzfähigen militärischen Kapazitäten keinen Großangriff von außen wirksam abwehren.
Österreichs neutraler Status sichert per se keineswegs automatisch den Erfolg seiner Bemühungen als internationaler Vermittler. Österreich sollte daher grundsätzlich alle Initiativen zur Förderung friedlicher Beilegung internationaler Konflikte mit seinen europäischen Partner im Rahmen der GASP absprechen.