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Ausnahmezustand wird politischer Alltag

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare
Clemens M. Hutter war Chef des Auslandsressorts bei den "Salzburger Nachrichten".
© privat

Wenn Allah will, läutet Erdogans "fortgeschrittene Demokratie" in der Türkei eine neue Ära ein. Laut Umfragen haben 80 Prozent der Stimmberechtigten keine Ahnung, was die Verfassungsänderung soll.


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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan propagiert seit 2003 ein Präsidialsystem, das vor allem mit dem Terror fertig werden müsse. Zu Neujahr 2016 erläuterte er dieses System so: "Es gibt Beispiele in der Vergangenheit. Wenn Sie an Hitler-Deutschland denken, haben Sie eines." Ihm schwebt eine von einem starken Präsidenten geführte "fortgeschrittene Demokratie" vor, die nicht mehr dem demokratischen Rechtsstaat entspricht.

"Freiheit besteht nur, wenn Legislative, Exekutive und Judikative strikt voneinander getrennt sind. Andernfalls droht die Zwangsherrschaft eines Despoten." So definierte Charles de Montesquieu 1748 die Gewaltenteilung. Diese freiheitliche Ordnung löste nicht das historisch belastete Verhältnis zwischen Türken und Kurden, einer ethnischen Minderheit von knapp einem Fünftel der Bevölkerung in der Türkei. Wann immer sich Kurden gewaltsam gegen Unterdrückung wehrten, ging die Türkei gegen sie mit "Terror von oben" vor. Hinter der Terrorwelle, die seit Oktober 2015 über die Türkei rollt und seither mindestens 450 Todesopfer gefordert hat, steckt zwar die verbotene Kurdenpartei PKK, vor allem aber der IS.

Nach dem gescheiterten Militärputsch im Juli rief Erdogan den Ausnahmezustand aus, der bis 19. April verlängert wurde. Die vorläufige Bilanz der "fortgeschrittenen Demokratie" entspricht dem Grundmuster jener Säuberungen, mit denen autoritäre Regimes "Ordnung" herzustellen pflegen: 120.000 Beamte, Richter, Staatsanwälte, Militärs, Professoren und Polizisten durch Anhänger Erdogans ersetzt; 35.000 Personen wegen angeblicher Kontakte zu Terroristen eingesperrt; 170 Zeitungen, Verlage, Social Media und TV-Sender für Erdogans Propaganda gleichgeschaltet; 140 Journalisten verhaftet; 500 Bildungsinstitute und karitative Vereine wegen angeblicher Verbindung zu Fethullah Gülen geschlossen. Dieser islamische Prediger überwarf sich mit Erdogan, flüchtete in die USA und hat wegen seines Engagements für Bildung und Caritas unter türkischen Muslimen starken Anhang. Deshalb sieht ihn Erdogan auch als Drahtzieher hinter dem Militärputsch.

Verfassungsänderung auf einem Umweg

Wenig Wunder, dass Erdogan den gescheiterten Militärputsch als "Geschenk Allahs" pries und bekannte: "Wenn Allah will, wird dies der Beginn einer neuen Ära für die Türkei." Dafür braucht das Land eine Präsidialverfassung. Weil Erdogan für eine Verfassungsänderung nicht die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament bekommt, hat er den verfassungsgemäßen Umweg gewählt: Änderung mit Drei-Fünftel-Mehrheit, Bekräftigung der Abstimmung in einem zweiten Durchgang und dann Anfang April Volksabstimmung.

Nach der geänderten Verfassung kann der Präsident unter anderem Beschlüsse des Parlaments durch Veto blockieren, per Dekret ohne Parlament regieren, alle wichtigen Posten in Exekutive und Justiz besetzen und das Parlament jederzeit auflösen. So wird der Ausnahmezustand politischer Alltag und die Gewaltenteilung festgeschriebene Theorie.

Das Klima für einen Volksentscheid ist schlecht: Terror und Putschversuch ließen den Tourismus um ein Drittel einbrechen, entwerteten die Lira um 30 Prozent und bewogen Investoren, eiligst das Land zu verlassen. Erdogan hält das für eine infame Verschwörung von Spekulanten. Laut jüngsten Umfragen haben 80 Prozent der Stimmberechtigten keine Ahnung, was die Verfassungsänderung soll. Sie müssen wohl Erdogan glauben, dass er mit dem Terror fertig werde. Diese Annahme unterstützen die gleichgeschalteten Medien und das staatliche TV, das allein Parlamentsdebatten direkt übertragen darf. Es schaltete sofort ab, wenn Oppositionelle zu Wort kamen. Da wiegt Donald Trumps Lob doppelt: "Anerkennung, dass Erdogan das herumgedreht hat."