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Außergewöhnliches über Al Kaida

Von David Ignatius

Gastkommentare

Die Terrororganisation liegt jüngsten US-Erkenntnissen zufolge am Boden, ist jedoch sicher noch nicht am Ende. Und: Am gefährlichsten ist, was wir nicht über Al Kaida wissen.


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SSE nennen es US-Regierungsvertreter ironisch, Sensitive Site Exploitation (sensible Fundstellenverwertung). Das ist der verblümte Begriff für die außergewöhnliche Materialsammlung aus Osama bin Ladens ehemaligem Versteck. Kurz vor dem zehnten Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September 2001 ist es nun möglich, dieses Beweismaterial zu nützen, um sich ein lebensnahes Bild von der Al Kaida zu machen.

Drei Hauptthemen haben sich laut US-Regierungsbeamten bei der Untersuchung herauskristallisiert, meist aus der Kommunikation zwischen Bin Laden und seinem Top-Stellvertreter Atiyah Abd al-Rahman. Da der in Libyen geborene Atiyah, der bei Analysten unter seinem Vornamen bekannt ist, als Schlüsselverbindung des Al-Kaida-Chefs zur Außenwelt fungierte, wird er von den Ermittlern als bedeutender eingestuft als Bin Ladens formaler Nachfolger Ayman al-Zawahiri.

Hier einige der Untersuchungshighlights:

Bis zu seinem Tod behielt Bin Laden eine Vorliebe dafür, einen bedeutenden Terroranschlag auf die USA auszuüben, idealerweise verknüpft mit dem zehnten Jahrestag der 9/11-Anschläge. Er und Atiyah besprachen oft, wer einen solchen Angriff ausführen könnte: Atiyah schlug Namen vor, die Bin Laden ablehnte.

Bis zuletzt hielt Bin Laden Ausschau nach einem Anschlag auf große, wirtschaftlich bedeutende Ziele, der die Weltgeschichte verändern sollte, einem Anschlag, der 9/11 ebenbürtig, wenn nicht überlegen sein würde. Im Gegensatz dazu bevorzugte Zawahiri eine Strategie kleinerer Anschläge.

Bin Laden war nicht, wie Analysten ursprünglich annahmen, nur der isolierte Seniorführer, sondern der handelnde Hauptgeschäftsführer. Hingegen war Zawahiri, dem man eher diese Rolle zuschrieb, in der Tat recht isoliert - und das ist er bis heute geblieben. Zawahiri macht das Misstrauen zwischen der ägyptischen Faktion der Al Kaida und anderen Mitgliedern wie Atiyah zu schaffen.

Schwer getroffen wurde Bin Laden von den Drohnenangriffen auf die Al-Kaida-Stützpunkte in den pakistanischen Stammesgebieten. "Geheimdienstkrieg" nannte er das und sagte: "Das ist die einzige Waffe, die uns wirklich trifft." Seine Kader klagten, dass sie in den Stammesgebieten nicht trainieren könnten, sich nicht austauschen, nicht ungestört reisen und keine neuen Rekruten ausbilden. Bin Laden sprach darüber, die Al-Kaida-Basis zu verlegen, unternahm aber nichts.

Beweise für eine Mitwisserschaft der pakistanischen Regierung über Bin Ladens Versteck in Abbottabad konnten nicht gefunden werden. Deutlich ist vielmehr, dass Bin Laden unter paranoiden Ängsten litt, aufgespürt und getötet zu werden. Entdeckt zu werden, war häufig ein Thema zwischen Bin Laden, Atiyah, Zawahiri und anderen. Bin Laden machte sich auch Sorgen, das Ansehen der Al Kaida unter Muslimen könnte schwinden.

Die Al Kaida, die in diesen Unterlagen zum Vorschein kommt, ist eine arg mitgenommene, desorientierte Gruppe. Wenn die Ermittler ihre neue Sicht der Al Kaida zusammenfassen, sprechen sie von einer Organisation, die am Boden liegt, jedoch sicher noch nicht am Ende ist. Hinweise auf geplante Anschläge in den USA gibt es - zehn Jahre danach - nicht. Aber die Suche geht weiter. Die Verantwortlichen wissen, dass das am gefährlichsten ist, was wir nicht über die Al Kaida wissen.

Übersetzung: RedaktionDer Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".