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Austausch im Gehirn gestört

Von Frank Leth, AP

Wissen

Sind Menschen Opfer einer Gewalttat geworden oder haben eine Naturkatastrophe wie den Tsunami überlebt, kann sie das erlittene Trauma noch Jahre später belasten und den Alltag voll beherrschen. "Etwa 30 bis 50 Prozent aller Menschen, die ein Trauma erlitten haben, entwickeln eine so genannte posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)", sagt Günter Seidler, Psychotherapeut und Leiter der Sektion Psychotraumatologie an der Universität Heidelberg. Die seelische Verletzung vieler Betroffener führe bis zur Arbeitsunfähigkeit. Hilfe verspricht jedoch eine Therapie mit schnellen Augenbewegungen.


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Dabei handelt es sich um das so genannte EMDR-Verfahren (Eye Movement Desensitization and Reprocessing). Die Klinische Psychologin Francine Shapiro aus dem kalifornischen Palo Alto hatte 1987 erstmals entdeckt, dass ein rasches horizontales Hin- und Herbewegen ihrer Augen zu einer Verringerung von belastenden Gedanken führt. In den 90er Jahren wurde daraus ein erfolgreiches Behandlungsverfahren entwickelt, welches vor allem bei der PTBS Anwendung findet.

Bei der Störung drängen sich den Betroffenen immer wieder belastende Gedanken und Erinnerungen an das Trauma auf. Typisch sei, so Seidler, dass das Opfer nur einzelne Erinnerungsbruchstücke angeben kann: "Im Zustand der Lebensgefahr werden im Gehirn oft nur Fragmente des Geschehens abgespeichert." Zudem ziehen sich dem Experten zufolge viele Traumatisierte innerlich zurück, was wiederum zu Vereinsamung führt. Auch werden Situationen vermieden, die die erlittene Angst wieder abrufen können.

Mit dem EMDR-Verfahren werden wahrscheinlich Blockaden im Gehirn gelöst. "Einzelne Erinnerungsbruchstücke des Traumas sollen zu einer Erinnerung zusammengefügt werden", sagt Seidler. Die schnellen Augenbewegungen sollen den Informationsaustausch zwischen der linken und rechten Gehirnhälfte anregen, so dass Erlebtes besser verarbeitet werden kann. Den ganz genauen Wirkmechanismus von EMDR kennt man allerdings noch nicht

Nach Angaben des deutschen EMDR-Instituts in Bergisch-Gladbach bleiben die einzelnen Erinnerungsbruchstücke offenbar in den Mandelkernen im Gehirn stecken. In diesem Teil des Gehirns werden die einzelnen Sinneseindrücke und Gefühle unreflektiert zwischengespeichert. Von dort aus werden die Informationen dann an die linke Großhirnhälfte weiter geleitet, wo die Eindrücke miteinander in Zusammenhang gebracht werden. Hier entstehen auch die Worte für das, was erlebt worden ist.

Bei der PTBS scheint dieser Austausch im Gehirn jedoch gestört zu sein. "Die beidseitige Stimulierung beider Gehirnhälften soll diese Blockade wieder aufheben", sagt Seidler. Dies geschieht, indem der Patient auf die sich schnell bewegenden Finger des Therapeuten blicken muss. Neben den Augenbewegungen kann die Stimulierung beider Hirnhälften auch durch Töne, abwechselnd am linken und rechten Ohr, oder mit leichten abwechselnden Berührungen an den Beinen erreicht werden. Während dieser Behandlung soll sich der Patient das traumatische Ereignis wieder vorstellen. "Alles, was sich abgespielt hat, wird dann wieder neu erlebt", erklärt Seidler.

Da die Therapie sehr belastend ist, muss sichergestellt sein, dass der Patient so genannte autoimaginative Techniken beherrscht, um seine Gefühle in den Griff zu bekommen und den Stresspegel zu senken. "Für suizidgefährdete oder suchtkranke Patienten ist EMDR nicht geeignet", sagt der Fachmann.

Nach mehreren EMDR-Sitzungen verblassen schließlich die traumatischen Erinnerungen und positive Gedanken stellen sich ein. Der Erfolg von EMDR ist in zahlreichen Studien mittlerweile nachgewiesen. Danach bildeten sich die Symptome der PTBS nach mehreren 90-minütigen EMDR-Sitzungen um bis zu 100 Prozent zurück. Der heilende Effekt sei über Jahre feststellbar. Oft schließt sich danach noch eine herkömmliche Psychotherapie an.