Einmal im Monat treffen sich in Wien Männer, die ihre an Demenz erkrankten Frauen pflegen. Im Mittelpunkt der Gesprächsrunden stehen alltägliche Probleme und der Umgang mit schwierigen Situationen.
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Pflege ist weiblich. Zu 80 Prozent sind es Frauen, die sich daheim um einen demenzerkrankten Angehörigen kümmern. Eine ungleiche Verteilung unter den Geschlechtern. Das ist so in der Natur von Mann und Frau begründet, sagen die einen. Hier sind tradierte Rollenbilder nach wie vor wirksam, die anderen.
Wie auch immer, in jedem Fall ist der pflegende Mann die Ausnahme. Doch diese Ausnahme gibt es, und sie nimmt zu. Wie Prof. Dal-Bianco, Leiter der Spezialambulanz für Gedächtnisstörungen am AKH Wien betont, ist das Besondere an Alzheimer, dass diese Krankheit nicht nur ein Leben, sondern auch das der Familie radikal verändert. Der Pflegende muss oft genug seinen eigenen Lebensrhythmus zugunsten von dem des demenziell Erkrankten aufgeben.
Nur wenige ältere Männer sind in häuslichen Tätigkeiten routiniert. Unwissen macht unsicher. Unsere Sozialeinrichtungen bieten zwar jede Menge Beratung und Unterstützung für junge Eltern an, nicht aber für ältere pflegende Menschen. Immerhin, langsam tut sich etwas. Von der Psychosozialen Angehörigenberatung der Caritas Wien ist im September 2013 ein regelmäßiges Treffen pflegender Männer ins Leben gerufen worden: "Meine Frau hat Demenz". Hier können sich Betroffene austauschen, von ihren Erfahrungen berichten, Beratung einholen.
Monatliche Treffen
Einmal im Monat findet die Gesprächsrunde statt. Herr Friedrich fehlt an diesem Abend. Hat sich auch nicht entschuldigt. Ist gewiss krank, vermuten die anderen. Schließlich habe Herr Fried- rich schon beim letzten Termin gar nicht gut ausgesehen. Erschöpft, am Ende seiner Kräfte.
Die hier zusammenkommen, pflegen alle ihre an Demenz erkrankten Ehefrauen. Die meisten sind selbst nicht mehr bei bester Gesundheit. So unter anderem Herr Dieter, der wegen einer Operation am grauen Star für heute Abend abgesagt hat.
Das Treffen besteht diesmal aus einer kleinen Runde. Wie geht es Ihnen? Was gibt es Neues?, fragt der Moderator und Initiator diese Veranstaltung, Raphael Schönborn, ein diplomierter psychiatrischer Gesundheits- und Krankenpfleger.
Herr Klein erzählt, dass die Krankenkasse die Kosten für die Windeln seiner Frau nicht übernehmen will. Noch ist sie mobil und benötigt daher spezielle Windeln. Doch die Krankenkasse kommt nur für solche auf, die Bettlägrige tragen. Dass Menschen noch gehen, aber schon inkontinent sein können, das hat sich offensichtlich noch nicht bis zu den Krankenkassen durchgesprochen.
Es fing im Krankenhaus an, bei einer Routineuntersuchung, erzählt Herr Klein. Da habe seine Frau das erste Mal in die Hose gemacht, wohl wegen des Stresses. Seither sei es mit ihrer Kontrolle über die Blase vorbei. Ein stigmatisierendes Handicap.
In dieser Runde kann man alles offen zur Sprache bringen. Jeder ist mit dem gleichen Problem vertraut. Mit Demenz. Man braucht keine Scheu voreinander zu haben. Man braucht keine Fassade aufzuziehen - und das allein tut schon gut. Man kann ehrlich sein.
Bis vor einem Jahr hat Herr Klein seine Frau allein gepflegt. Dann wurde er selbst krank, musste sich am Herzen operieren lassen. Seit dieser Zeit hat er eine 24-Stunden-Betreuung. Es sind zwei Slowakinnen, die einander in 14-tägigem Rhythmus abwechseln. Herzensgute Menschen, wie Herr Klein betont. Ohne sie würde er die Arbeit jetzt gar nicht mehr schaffen. Denn die Alzheimererkrankung seiner Frau schreitet unerbittlich voran, seit einiger Zeit ist sie nicht mehr in der Lage, in zusammenhängenden Sätzen zu sprechen.
Herr Schwarz, etwa 80, berichtet, dass es seiner Frau seit Neuestem schwer fällt, das Essen runterzuschlucken. "Sie behält es ewig im Mund. Kaut die ganze Zeit, aber schluckt nicht." Die scheinbar einfachsten Dinge der Welt wollen plötzlich nicht mehr funktionieren und erweisen sich als großes Problem.
Dass es seiner Frau schlecht geht, überrascht alle, vor allem, weil es vor einem Monat noch hieß, dass sie regen Anteil an der Verlobung ihres Enkels genommen habe. Und nun dieser Abbau. Dauernd, sagt Herr Schwarz, rede seine Frau davon, dass sie sterben wolle. Mindestens zwanzig Mal am Tag. Was bedeutet das? Möglich, dass Frau Schwarz ein momentanes Tief erlebt. Auch möglich, dass sie aus dem Leben scheiden möchte. Und ebenso möglich, dass sie weiter leben möchte, aber von einem schlechten Gewissen geplagt wird, von dem Gefühl, den anderen nur zur Last zu fallen.
Offene Fragen
Die Runde bespricht das Problem und beleuchtet es von mehreren Seiten. Gerade das Lebensende birgt viele Rätsel. Wir wissen nicht, was im Kopf eines Menschen vor sich geht, der am Rande des Todes steht. Was ist zu tun? Lebensverlängerung um jeden Preis? Gerade das kann seinem Willen und seiner Würde widersprechen.
Auch der Sohn von Herrn Schwarz ist zu dem Treffen gekommen. Er unterstützt seinen Vater bei der Pflege. Oft ist die Rede vom Zerfall der Familien, dies ist ein Gegenbeispiel, ein Beleg für familialen Zusammenhalt.
Der Sohn erzählt, dass er die Sachwalterschaft für seine Mutter übernehmen möchte. Einfach zur Vorsorge. Denn keiner wisse, was die Zukunft bringe. Vielleicht verschlechtere sich der Zustand seiner Mutter schon bald so sehr, dass sie in ein Heim müsse. Und dann sei eine Unterschrift nötig, unter den Heimvertrag. Seine Mutter könne schon jetzt nicht mehr schreiben, doch als Sachwalter könne er ja dann unterschreiben.
Und was, wenn Frau Schwarz weiterhin kein Essen zu sich nimmt? Dann wäre die PEG-Sonde, die künstliche Ernährung, eine Option. Doch wäre das in ihrem Sinn? Gewiss nicht, sagt der Sohn. Denn das hieße nur, den Tod künstlich hinauszuzögern. Sie solle besser in Frieden aus der Welt gehen. So seine Sicht heute. Doch wie er sich entscheidet, wenn das Problem akut wird, das könne er nicht sagen. Vielleicht wieder ganz anders.
Offene Fragen bleiben. Aber das ist nicht weiter schlimm. Es gibt nicht auf alles fertige Antworten. Sich austauschen und aussprechen - das ist schon Hilfe genug.
Ein Monat später: Was hat sich in der Zwischenzeit getan? Gewaltiges, sagt Herr Schwarz, seine Frau sei vor zwei Wochen gestorben. Im Krankenhaus, kurz nach der Dialyse, die sie regelmäßig machen musste. "Sie wollte nicht mehr, sie wollte gehen. Und das hat sie geschafft."
Was ist Demenz
56 Jahre lang lebte Herr Schwarz mit seiner Frau zusammen, nun fängt ein neues Kapitel für ihn an. Die letzte Zeit stand ganz im Zeichen der Pflege seiner Frau. Vor einem Jahr hatten die Ärzte ihm gesagt, sie habe Demenz. Demenz? Was ist das? Herr Klein konnte mit dem Wort nichts anfangen. Erst als die Ärzte von Alzheimer sprachen, wusste er Bescheid. Und begann, seine Frau mit anderen Augen zu betrachten. Wie oft hatte er sich über sie geärgert. Eigensinnig kam sie ihm vor, unverlässlich, ja bösartig. Die Diagnose half ihm, ihr Verhalten besser zu verstehen. Nun gab es eine Erklärung für das zurückliegende Chaos. Von da an ging er verständnisvoller und behutsamer mit ihr um.
Gelebte Solidarität
"Es ist ein trauriger - und schöner Tod." Das sagt Schwarz’ Sohn, der auch wieder gekommen ist. "Man kann einen Menschen gern haben und zugleich wütend auf ihn sein. Genauso kann man über einen Tod traurig sein und ihn zugleich begrüßen. Meiner Mutter blieben immerhin Heim und künstliche Ernährung erspart. Einige Tage vor ihrem Tod lehnte sie sich an meine Schulter und sagte: Ich will sterben. Darauf sagte ich: Du darfst gehen. Das fiel mir ganz spontan ein. Doch ich glaube, es war richtig, was ich gesagt habe."
Stille in der Runde. Ein intensiver, ein bewegender Moment. Dann sagt Herr Klein: "Sie hat erreicht, was sie wollte."
Vater und Sohn sagen, sie seien ein letztes Mal gekommen, um sich zu verabschieden. Gerne könnten sie aber weiterhin kommen, sagt Schönborn. Und Herr Dieter, der beim letzten Treffen gefehlt hatte, drängt geradezu darauf: "Ja, kommen Sie bitte weiterhin. Was Sie gerade erleben, das steht uns allen ja noch bevor. Sie können uns sagen, wie man mit solch einer Situation umgeht."
Herr Dieter wohnt in Döbling. Ein feiner Herr, mit Sakko und Stecktuch - und ein überzeugter Gewerkschafter. Solidarität ist für ihn ein zentraler, gelebter Begriff, auch in der Beziehung zu seiner Frau. Seit 18 Jahren pflegt er sie, so lange ist sie, inzwischen bettlägrig, schon an Alzheimer erkrankt.
Herr Dieter erzählt, dass seine Frau erst vor Kurzem wieder einen epileptischen Anfall gehabt habe. Für ihn nichts Neues. Nicht die Zuckungen und Konvulsionen seien das Schreckliche, sondern der Schrei, den seine Frau dann jeweils von sich gebe. Ein Schrei, der aus unendlichen Tiefen zu kommen scheine und ihm jedes Mal durch Mark und Bein gehe. "Ich bin kein Sensibelchen, aber auch jetzt, wenn ich nur davon erzähle, läuft mir wieder ein Schauder über den Rücken." Nach solch einem Anfall schlafe seine Frau fast den ganzen Tag. Und danach sei sie so klar und hell im Kopf wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Dieser Zustand halte jedoch nie lange an, und dann versinke sie wieder in ihre eigene Welt.
Problem Medikamente
Frau Dieter kann nicht mehr sprechen. Das hält ihren Ehemann allerdings nicht davon ab, ihr jeden Abend eine Gute-Nacht-Geschichte zu erzählen. Er berichtet dann von früheren Begebenheiten, die sie gemeinsam erlebt haben. Wie viel und ob sie überhaupt etwas mitbekommt, das kann er nicht sagen. Doch er ist davon überzeugt, sie zu erreichen, denn jedes Mal entspannten sich ihre Gesichtszüge und sie werde müde.
Das erste Mal dabei ist Herr Praska, Schlossermeister von Beruf. Sein Händedruck lässt keinen Zweifel daran, dass er ein Leben lang mit Metall gearbeitet hat. Nun muss er mit seinen kräftigen Händen regelmäßig die Tabletten für seine Frau in einer kleinen Schachtel ordnen, sie mitunter auch teilen. Schwerstarbeit für Herrn Praska. Fürchterlich seien diese kleinen Dinger!
Was von den Medikamenten überhaupt zu halten sei, fragt er in die Runde. Neulich seien in einer ZDF-Sendung Ärzte zu Wort gekommen, die behaupteten, die Arznei nutze überhaupt nichts, man könne sie getrost vergessen. "Stimmt das, kann man wirklich auf sie verzichten?", fragt Herr Praska.
Lange Pause. Kein Ja, kein Nein. Der Moderator erklärt, man dürfe sich in jedem Fall keine überzogenen Hoffnungen machen. Alzheimer-Demenz ließe sich nicht heilen, die Medikamente seien höchstens in der Lage, die Krankheitssymptome hinauszuzögern. "Für die pharmazeutische Industrie ist das ein gutes Geschäft. Sie verkauft Medikamente, ohne dass der Patient jemals gesund wird. Besser wäre es für uns alle, wenn wir Heilung erwarten könnten."
Wenzel Müller, geboren 1959, lebt und arbeitet als Journalist, Sachbuchautor und Lehrer in Wien. Zuletzt ist von ihm das Buch "Alzheimer" im Verlag für Konsumenteninformation, Wien 2014, erschienen.
Information:
"Meine Frau hat Demenz": Beratungs- und Servicestelle Betreuen und Pflegen, Strozzigasse 5, 1080 Wien, Tel. 0680-5016309