Soziologe Hirsch-Kreinsen: Befürchteter Beschäftigungsrückgang durch Industrie 4.0 sei "kein Automatismus".
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Wird es durch den Wandel der Arbeitswelt im Zuge von Digitalisierung und Robotisierung nur Gewinner geben, wie uns das vor allem Industrie- und Wirtschaftskapitäne zu vermitteln versuchen? Oder nur Verlierer? Zu welchen gesellschaftlichen Verschiebungen wird es kommen, werden die Mittelschichten zerrieben? Wird es neue Formen der gesellschaftlichen Umverteilung brauchen, wenn wir anders, wenn wir weniger arbeiten werden?
Fragen wie diese diskutierte am Dienstagabend "Standard"-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid mit dem deutschen Wirtschafts- und Industriesoziologen Hartmut Hirsch-Kreinsen von der Universität Dortmund im Wiener Ringturm. Hirsch-Kreinsen gilt als führender Experte zum Thema digitale Arbeitswelt, er ist wissenschaftlicher Beirat der Plattform Industrie 4.0 und Mitglied im Beirat "Zukunft der Arbeit" der deutschen Gewerkschaft IG Metall. Alarmismus, so seine These, sei ob der Debatte um Industrie 4.0 völlig unangebracht. Der Wandel der Arbeitswelt aber werde schneller passieren als heute vorstellbar.
PR-Meisterleistung
Das Etablieren des Begriffs Industrie 4.0 sei eine "PR-Meisterleistung" gewesen, die "Erfolgsgeschichte" des Schlagworts habe vor rund fünf Jahren im Bereich der digitalen Industrie in Deutschland ihren Ausgang genommen, erklärt Hirsch-Kreinsen.
Eine "Entgrenzung" der Arbeit in zeitlicher, örtlicher und organisatorischer Hinsicht sei in jedem Falle schon in den kommenden Jahren zu erwarten. Die Angst der Menschen vor einem ökonomischen Perspektivenverlust aber sei unbegründet, ist sich der Soziologe sicher. Die häufig zitierte, 2013 erschienene Studie der Oxford-Wissenschafter Carl Frey und Michael Osborne, wonach mittelfristig bis zu 47 Prozent der Jobs am US-Arbeitsmarkt "automatisierungsgefährdet" seien, schüre unbegründeten Fatalismus, sagt Hirsch-Kreinsen. Folgestudien, wonach in Deutschland sogar bis zu 60 Prozent der Arbeitsplätze gefährdet seien, hält er für "völlig überzogen". Derartige Studien würden nur die Potenziale des digitalen Wandels der Arbeitswelt aufzeigen, von Tatsachen könne noch nicht die Rede sein: "Beschäftigungsrückgang ist kein Automatismus."
Vor allem strukturierbare Tätigkeiten werden von der Robotisierung betroffen sein. Dabei werde sich auch die Chance auftun, arbeitsgesundheitlich bedenkliche Tätigkeiten "weg zu digitalisieren". Ganz nebenbei sie die Entwicklung auch eine Chance, dem demografischen Wandel zu begegnen: Eine immer älter werdende Gesellschaft, in der der Einzelne immer länger arbeiten muss, könne nicht nur belastende Tätigkeiten an die intelligenten Maschinen delegieren, sondern auch einen Arbeitskräftemangel abfedern.
Akademischer Bereich betroffen
Nicht nur Tätigkeiten, für die eine niedrige Qualifizierung ausreicht, seien potenziell automatisierbar, erklärt Hirsch-Kreinsen. Auch akademische Berufe, etwa Ärzte, Rechtsanwälte oder Journalisten, müssten sich auf einen Wandel ihrer Tätigkeitsfelder einstellen. Schon jetzt sei "Roboterjournalismus" im Experimentalstadium, intelligente Maschinen würden etwa automatisiert Sportmeldungen und Tabellen erstellen. Wird Industrie 4.0 nun auch die Mittelschichten treffen? Vor allem die Zukunft der klassischen Facharbeit - nach wie vor das Rückgrat der industriellen Produktion - sei infrage gestellt, so Hirsch-Kreinsen. Auch wenn kleinere Betriebe anders als Weltkonzerne, die Industrie 4.0 vorantreiben, großen Umstellungen skeptisch bis ablehnend gegenüberstünden - über kurz oder lang würden auch sie sich den Neuerungen der (angekündigten) Revolution nicht entziehen können.
Dennoch entstünden "neue Freiräume", Tätigkeitsanforderungen würden sich verschieben. Schließlich sei die Implementierung von Industrie 4.0 eine politische Frage. Ein bedingungsloses Grundeinkommen oder eine Wertschöpfungsabgabe, mit denen der Wandel aufgefangen werden könnte, sieht der Soziologe skeptisch: "Bedingungslos", das bedeute ein Einkommen ohne Gegenleistung; eine Wertschöpfungsabgabe berge die Gefahr, Innovationsfreudigkeit zu hemmen.