Europa könnte von österreichischen Geschichtenerzählern lernen - unter anderem von Aurel Popovici, der 1906 die "Vereinigten Staaten von Groß-Österreich" konzipierte.
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Der mittlerweile aufgegebene Widerstand der frankophilen Wallonen gegen das Handelsabkommen CETA hing wohl auch mit deren Unzufriedenheit mit der belgischen Regierung und der Europäischen Union zusammen. Er ist demnach Teil der zentrifugalen Tendenzen in Europa, die in der anfänglichen Ablehnung des Lissabon-Vertrages durch die Franzosen ihren Ausgangspunkt hatten und die sich zuletzt im Umgang Europas mit finanzschwachen Staaten wie Portugal und Griechenland und mit den Herausforderungen des Stroms von Schutzsuchenden manifestiert haben.
Ein weiterer Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Führungskompetenz der europäischen Institutionen sind nicht zuletzt die separatistischen Bestrebungen der Schotten, der Briten, der Basken und der Katalanen.
Ingeborg Bachmann zufolge lehrt die Geschichte zwar dauernd, findet aber keine Schüler. Wollte man vom Geschichtsunterricht endlich doch profitieren (was wohl ein Gebot der Stunde sein sollte), ließen sich wenigstens zwei historische Phasen finden, die Parallelen zur aktuellen Situation aufweisen.
Jenseits des Atlantiks war die amerikanische Bevölkerung Mitte des 19. Jahrhunderts in wirtschaftlichen und sozialen Fragen ähnlich gespalten wie der europäische Kontinent in diesen Tagen. Vor diesem Hintergrund bewirkte die Wahl des als Gegner der Sklaverei bekannten Abraham Lincoln zum Präsidenten die Abspaltung der Südstaaten und den Sezessionskrieg. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass die am Höhepunkt dieses Bruderkrieges von Lincoln gehaltene Gettysburg Address in weiterer Folge ein für den nordamerikanischen Kontinent einendes Moment darstellte, das Europa bis vor Kurzem gefehlt hat.
Im August 2015 wurde, bezeichnenderweise in der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit", eine von der berühmten Rede auf dem Soldatenfriedhof inspirierte "Wien-Rede" veröffentlicht, ein Jahr später hat Jean-Claude Juncker eine "Rede zur Lage der
Union" gehalten, deren Motto "das Machbare ist Gebot der Stunde" einen österreichisch anmutenden Pragmatismus suggeriert.
Österreichische Vision
Diesseits des Atlantiks lohnt sich ein Blick zurück in die letzten Jahre der österreichischen Donau-Monarchie. Auch dort brodelte es seit Beginn des damals
neuen Jahrhunderts zunehmend. Die Arbeiterschaft begann gegen menschenunwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen zu rebellieren und an den Rändern der Monarchie regten sich als Ausdruck der Unzufriedenheit mit der starren und an den täglichen Sorgen der Menschen vorbei verwaltenden Politik des alten Kaisers allenthalben Autonomiebestrebungen. Einer von Franz Josephs Untertanen, der die Sprengkraft dieser Situation erkannt hatte und die Lunte aus dem Pulverfass ziehen wollte, bevor sie angesteckt würde, war Aurel Popovici.
Er wurde 1863 in Lugosch, heute Rumänien, als Sohn eines Kürschners geboren und studierte nach dem Schulabschluss von 1884 bis 1888 an der Universität Wien Medizin. Bald danach begann er sich für Politik zu interessieren und zählte 1892 zu den Verfassern einer an den Kaiser gerichteten Petition mit dem Titel "Die rumänische Frage in Siebenbürgen und Ungarn", in der nationale Rechte für Popovicis Landsleute in Siebenbürgen gefordert wurden. Dabei richtete sich seine Kritik lediglich gegen die Vorherrschaft der Ungarn in Transleithanien, nie aber gegen das Kaiserhaus selbst. Ein Umstand, der die historische Beobachtung bestätigt, dass die meisten österreichischen Revolutionäre nicht dazu neigen, gleich das Kind mit dem Bade ausschütten zu wollen.
Trotzdem wurde Popovici im sogenannten "Memorandum-Prozess" von Klausenburg in Abwesenheit zu vier Jahren Kerker verurteilt. Über die Schweiz gelang ihm die Flucht zurück nach Rumänien. In den folgenden Jahre lebte er in Bukarest und arbeitete zunächst als Sprachlehrer, später auch als politischer Schriftsteller.
Im "Belvedere-Kreis"
Da der Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, stets ein offenes Ohr für die Anliegen der Rumänen (und Kroaten), die unter der Herrschaft der Ungarn litten, hatte, wurde Popovici zusammen mit dem rumänischen Politiker Julius Maniu um die Jahrhundertwende in den "Belvedere-Kreis" aufgenommen (das Schloss Belvedere diente Franz Ferdinand als Amtssitz). Dabei handelte es sich um eine Runde von Beratern des Thronfolgers, zu der unter anderem Conrad von Hötzendorf, Ale-xander Freiherr von Spitzmüller, Ottokar Czernin und die Staatsrechtler Heinrich Lammasch und Gustav Turba gehörten.
Im Jahr 1906, also vor 110 Jahren, veröffentlichte Aurel Popovici in Leipzig ein Buch, dessen Inhalt seinem spektakulären Titel zur Ehre gereichte: "Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich". Darin schlug der Autor eine Einteilung des österreich-ungarischen Reichsgebietes in "15 national-politische Individualitäten" vor, die "zusammen einen monarchischen Bundesstaat unter dem Namen ‚Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich‘ unter dem Zepter seiner Majestät des Kaiser Franz Joseph I." bilden sollten.
Bei der Grenzziehung zur Schaffung dieser gleichberechtigten Regionen orientierte sich Popovici an der kulturellen und sprachlichen Homogenität der Bevölkerungsgruppen der damaligen Kronländer. Im Paragraf drei des Verfassungsentwurfes sah Popovici vor, dass jeder Bürger eines Nationalstaates auch österreichischer Bürger sein sollte. "Groß-Österreich" sollte weiters ein gemeinsames Zollgebiet darstellen, die Kompetenz des Bundes sollte unter anderem alle auswärtigen Angelegenheiten, das "gesamte Kriegswesen und die Kriegsma- rine", die Zollgesetzgebung, Bestimmungen über Seerecht, Handels- und Wechselrecht, Pass- und Fremdenwesen, die Feststellung des Münzwesens und des Geldflusses, die Gerichtsbarkeit und das Finanzwesen "rücksichtlich der bundesstaatlichen Einnahmen und Auslagen" umfassen.
In den Paragrafen sieben bis neun wurden die Regierungsform des reformierten Staates und seine gesetzgebenden Körperschaften definiert. Popovicis Entwurf sah vor, dass die Bundesregierung der "Vereinigten Staaten von Groß-Österreich" aus den Vertretern aller 15 Nationalstaaten mit einem (vom Kaiser ernannten) Bundeskanzler zu bestehen hätte. Die Gesetzgebung wollte Popovici "gemeinschaftlich" in die Hände von Kaiser, Abgeordneten- und Herrenhaus legen.
Interessant sind die in dem Verfassungsentwurf vorgesehenen Bestimmungen die Nationalstaaten betreffend, in deren Kompetenz alle Angelegenheiten fallen sollten, die "nicht ausdrücklich der Kompetenz des Reiches vorbehalten sind". Jeder Nationalstaat sollte sich selbst eine Verfassung geben können, die vom Reich gewährleistet werden müsste, wofür im Gegenzug das Reich die Autonomie der Nationalstaaten garantiert hätte. Zwar war Deutsch als "internationale Vermittlungssprache" in den "Vereinigten Staaten von Groß-Österreich" vorgesehen, im Reichsparlament wäre aber jedem Mitglied der Gebrauch seiner Muttersprache erlaubt gewesen. Auf den Münzen und Banknoten war die verpflichtende Anwendung aller Staatssprachen geplant.
Zwar trat der Thronfolger diesem Konzept Popovicis nie ernsthaft näher (der Widerstand der Ungarn wäre unüberwindlich gewesen - erinnert uns das an etwas?), ließ aber doch einige Punkte davon in das von Alexander Brosch-Aarenau und Heinrich Lammasch ausgearbeitete "Thronwechselprogramm" einfließen.
Eine Spekulation über die Erfolgsaussichten von Popovicis Föderalisierungskonzept für die Donaumonarchie ist aus nahe liegenden Gründen müßig. Ersetzt man jedoch in diesem Verfassungsentwurf "Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich" durch die "Vereinigten Staaten von Europa", den Kaiser durch den Kommissionspräsidenten und die Nationalstaaten durch kulturell und sprachlich definierte Regionen, so könnte Popovicis visionäre Verfassung ein Modell für das Europa des Jahres 2016 sein.
Essenzielle Faktoren
Denn fünf Faktoren - von denen vier in Österreich-Ungarn zeit-weise verwirklicht waren - scheinen für einen Fortbestand der Einheit Europas essenziell: Erstens eine flächendeckend funktionierende Bürokratie (die sich nicht ständig selbst lahm legt), wie Robert Menasse sie in seinem Essay "Der europäische Landbote" fordert. Zweitens eine integre und integrative Identifikationsfigur, die direkt demokratisch gewählt und mit den nötigen politischen Kompetenzen ausgestattet werden sollte, an der Spitze. Harry Mulisch, niederländischer Autor mit alt-österreichischen Vorfahren, meinte zu Recht: "Beamte ohne Führung sind Kleider ohne Kaiser, [woran] ein geeintes Europa scheitern [könnte]." Betreffend den Wahlmodus eines solchen Präsidenten der Herzen könnte man bei Fritz von Herzmanovsky-Orlando Anleihen nehmen.
Weiters braucht die Europäische Union eine gemeinsame Außenpolitik samt gemeinsamer Armee (die der große österreichische Journalist Hugo Portisch seit Jahren fordert). Viertens eine als nachnational(istisch) zu bezeichnende Autonomie der Regionen (deren Ausdehnung nicht notwendigerweise gleichzusetzen sein muss mit der der heutigen Nationalstaaten), und fünftens eine übernationale Solidarität von der Art, wie sie seinerzeit arme slowenische Steinbrucharbeiter durch einen Streik zugunsten noch ärmerer böhmischer Pflasterer beim Bau der Ringstraße bewiesen haben.
Solcherart könnte die ehemalige Macht in der Mitte des Kontinents zum Lehrstück für eine zukünftige Möglichkeit in dessen Mitte werden. Aurel Popovici starb am 9. Februar 1917 in Genf.
Andreas Schindl, geboren 1968 in Wien, hat Medizin und Photobiologie studiert. Neben seiner Tätigkeit als Hautarzt in Wien schreibt er Essays und Bücher.