Mit mehr Autonomie könnten Schulen die unterschiedlichen Anforderungen ihrer Standorte offensiv angehen und ihre Profile schärfen - aber es lauern auch Gefahren in diesem Prozess.
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Der Sohn eines Hilfsarbeiters wird nie maturieren, dem Akademikerkind ist das Diplom in die Wiege gelegt: Die Formulierung ist überspitzt, aber die fehlende Chancengleichheit im österreichischen Bildungssystem ist unübersehbar. Ob Gesamtschule, Ganztagsschule oder Schulautonomie: Das hehre Ziel, möglichst gleiche Chancen für Kinder und Jugendliche aus allen sozialen Schichten herzustellen, dient als Argumentationsgrundlage für bildungspolitische Reformen aller Art.
Eine Neue Mittelschule in Wien-Ottakring benötigte andere Mittel und einen anderen Lehrplan als eine Hauptschule in Hermagor - diese Überlegungen stecken hinter dem Ruf nach mehr Autonomie für die Schulen. Doch auf diese unterschiedlichen Gegebenheiten können die meisten Schulen nur sehr schlecht reagieren; ihre Freiheit endet oft mit der Festlegung der "schulautonomen Tage", an denen die Schüler - zusätzlich zu den zentral geregelten Ferien - frei bekommen.
Positive Beispiele
Autonomie bedeutet aber auch, unter den gegebenen Voraussetzungen das Beste aus einer Schule zu machen. Eine Schule, der das gelungen ist, ist die Anne-Frank-Schule Bargteheide: 1990 begannen sieben Lehrer in einem Einfamilienhaus im Hamburger Speckgürtel zu unterrichten, bald wurde die Integrationsschule als "Restschule" stigmatisiert. Heute ist die Nachfrage nach Plätzen doppelt so hoch wie das Angebot, 2013 wurde die Integrationsschule mit dem deutschen Schulpreis ausgezeichnet. "Diese Schule zeigt, dass unter Normalbedingungen viel möglich ist", sagt Michael Schratz, Bildungswissenschafter an der Uni Innsbruck. Er sitzt in der Jury zur Vergabe des Schulpreises, welche die Anne-Frank-Schule als Prototyp einer "lernenden Organisation" mit einem Preisgeld von 100.000 Euro würdigt.
Doch manchmal ist die Profilschärfung eine regelrechte Überlebensnotwendigkeit. So war es im Gymnasium in der deutschen Bergbaustadt Alsdorf, ebenfalls Gewinner des deutschen Schulpreises. Hier leben viele Menschen mit Migrationshintergrund, Sachbeschädigung und Disziplinarverfahren waren Teil des Schulalltags, die Schule stand fast vor der Schließung. Mit Hilfe niederländischer Bildungsexperten schaffte das Gymnasium den Weg aus der Krise. (Gemeinsam mit Belgien sind die Niederlande das einzige EU-Land, in dem Schulautonomie Tradition hat. In zentralisierten oder föderalistischen Ländern wie Österreich war Autonomie lange Zeit kein Thema: Erst als 1993 die erste Reform zur Schulautonomie verabschiedet wurde, bekamen die Autonomiebestrebungen Aufwind.) Heute wird in Alsdorf nach dem Dalton-Plan unterrichtet, bei dem das selbstständige Lernen der Schüler und die Stärkung des Lehrerteams im Mittelpunkt stehen.
Eine Schule wird zur lernenden Schule, wenn sie Ziele definiert und unter Einbeziehung aller Beteiligten Visionen und Leitbilder entwickelt. Das entspricht der ursprünglichen Idee von Autonomie: Schulen sollten sich gegenüber der Gesellschaft stärker öffnen, als Mittel der demokratischen Mitbestimmung. Der Wunsch nach effizienterem Einsatz der öffentlichen Mittel kam in den 1990ern dazu. Wenn nun von gesteigerter Produktivität, ausgeschöpften Reserven und "New Public Management" die Rede ist, stellt sich die Frage, ob Schulen denn wie Unternehmen agieren sollen? Wettbewerb um die besten Schüler und die engagiertesten Lehrer, die Schärfung des Schulprofils um die Position am Bildungsmarkt zu stärken - auch das ist Schulautonomie.
Regionale Rücksichten
Wird damit nicht der Weg zu Elite- und Ghetto-Schulen geebnet? Werden immer mehr Privatschulen aus dem Boden schießen, wie es etwa in Schweden oder England der Fall war? Im föderalistischen Österreich sieht Schratz dafür keine große Gefahr, vielmehr könnten Schulen von den Spezialisierungen anderer Schulen lernen - wenngleich sie gut daran täten, einander in ihren Schwerpunkten nicht zu ähnlich zu sein. Es gehe auch immer um die Entwicklung einer Region, in der junge Menschen vom Kindergarten bis zur Matura guten Unterricht vorfinden. Gute Schulen stehen und fallen mit guten Pädagogen, und dünn besiedelte Regionen dürften sich schwer tun, diese zu gewinnen. Die Schulen werden sich um sie bemühen müssen, indem sie etwa kostenlose Wohnungen zur Verfügung stellen.
Doch derzeit hakt es schon dran: Direktoren können ihre Lehrer nicht selbst aussuchen, sondern bekommen diese vom Bund oder Land zugeteilt. Dass nichts Gutes dabei heraus kommen kann, wenn man Pädagogen der alten Schule mit Waldorf- und Montessori-Jüngern zusammenwürfelt, leuchtet eigentlich ein.
Doch Autonomie dürfe nicht mit Schulleiterautonomie verwechselt werden, sagt Stefan Hopmann, Bildungswissenschafter an der Uni Wien. Auch die neue Unterrichtsministerin Gabriele Heinisch-Hosek verkündete gleich nach ihrem Antritt: "Freie Wahl wird es nicht geben" und rechnet vor: "Wenn sich 80 Lehrer bewerben, aber nur drei genommen werden, soll der Schulleiter ein Mitspracherecht haben. Also Mitsprache ja, aber im Rahmen der Gegebenheiten. Den Rahmen geben wir vor, aber innerhalb dieses Rahmens kann sich jede Schule frei bewegen. Wo Schulen aber autonom sind, ist bei der Definition von Schulzielen, bei Stundenkontingenten, sie können auch die 50-Minuten-Stunden abschaffen und eigene Fächer kreieren."
Was in der Theorie möglich ist, scheitert oft an der Praxis. Etwa wenn zusätzliche Stunden nicht bewilligt werden, erzählt Stefan Böck: "Mein größter Kampf war der für geblockte Unterrichtsstunden." Er war 22 Jahre lang Direktor an der AHS Parhamerplatz. Hat er mehr als die vorgeschriebenen 50 Minuten Geschichte unterrichtet, fürchtete er, geklagt zu werden. Autonomie alleine mache zwar nichts besser, wie er sagt, aber es gebe Spielraum, das würde auch dem angekratzten Lehrerimage guttun. Er erzählt, er habe sich mit den Problemen an seiner Schule oft alleingelassen gefühlt: "Das Schlimmste war die Ohnmacht".
Mit mehr Autonomie kommt auf die Schulleiter noch mehr Verantwortung zu, sie können stärker zur Rechenschaft gezogen werden - doch bereits heute sind einige von ihnen mit Buchhaltung überfordert. Meint es das Ministerium mit dem Versprechen von mehr Autonomie ernst, müsste die Unterstützung massiv ausgeweitet werden, und das kostet. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Reform in Zeiten wie diesen irgendetwas anderes bedeutet als sparen", sagt auch Erich Ribolits, Bildungswissenschafter an der Uni Wien. Denn die Regierung hat angekündigt, sie wolle heuer 69,3 Millionen Euro bei der Bildung einsparen.
"Was als (Chancen-)Gleichheit idealisiert wird, ist die Freiheit, sich unter Bedingungen systematischer sozioökonomischer Ungleichheit brauchbar für die Verwertung zu machen. Der Zwang, sich selbst zum Humankapital degradieren zu müssen, wird als Freiheit verklärt - Not wird zu (Menschen-)Recht umgedeutet", schreibt Ribolits in seinem Buch "Abschied vom Bildungsbürger".
Vererbung von Bildung
Ribolits war viele Jahre in der Lehrerfortbildung tätig und sagt, Lehrer bräuchten "massive Unterstützung", was etwa Fragen der sozialen Benachteiligung anbelange und kommt dann zu dem Befund: "Die für Kinder verschiedener sozialer Schichten in unterschiedlichem Maß gegebene Wahrscheinlichkeit, eine gehobene gesellschaftliche Position zu erreichen, wird durch Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit im Bildungswesen erschreckend wenig verändert."
Schon lange sind sich Bildungswissenschafter einig, dass die Entscheidung über den weiteren Bildungsweg im zarten Alter von zehn Jahren mit schuld an der starken Vererbung von Bildung in Österreich ist, und selbst einige ÖVP-Landeshauptleute sind für die gemeinsame Schule.
Laut Pierre Bourdieu funktioniert das Schulsystem "von unten bis nach ganz oben" so, "als bestünde seine Funktion nicht darin auszubilden, sondern zu eliminieren. Es gelingt (. . . ), die Verlierer davon zu überzeugen, dass sie selbst für die Eliminierung verantwortlich sind. Indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten und Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur. "
Auch wenn begabte Schüler in einzelnen Fächern Klassen überspringen können, ein Direktor in Wien-Simmering Psychologen und Sozialarbeiter an seine Schule holen kann, oder auf Türkisch unterrichtet werden darf, kann Ungleichheit nicht beseitigt werden - aber sie würde zumindest nicht mehr negiert.
Bettina Figl ist Online- und Print-Redakteurin bei der "Wiener Zeitung" und schreibt vor allem über Bildung und Innenpolitik.
Dezentrale Organisation
Personal, Budget und Curriculum: Während Österreichs Schulleiter in Letzterem bereits recht viel Spielraum haben, endet die Mitsprache meist bei finanziellen oder personellen Entscheidungen. Das geht in Einzelfällen sogar so weit, dass Direktoren in Kleingemeinden keinen eigenen Telefonanschluss haben oder am Wochenende keinen Zutritt zu ihrer Schule haben.
Ursprünglich war Schulautonomie mit dem politischen Anliegen der demokratischen Mitbestimmung verbunden; Schulen sollten sich gegenüber der Gesellschaft stärker öffnen. In den 1990er Jahren kam der Wunsch nach effizienterem Einsatz der öffentlichen Mittel hinzu; die Organisation sollte dezentral im Sinne der Kunden erfolgen, die Ergebnisse evaluiert werden.
Heute wird Autonomie als Mittel zur Verbesserung der Qualität von Bildung angesehen – dass es das ist, ist allerdings keineswegs bewiesen. Die Erwartungen, die an Schulautonomie gestellt werden – wie Steigerung der Bildungsqualität, zielgerichteter Ressourceneinsatz, Demokratisierung der Entscheidungsprozesse – sind jedenfalls hoch, und Berichte der OECD verweisen seit Anfang der 1990er Jahre darauf, dass schulbasiertes Management zur Verbesserung der Schulqualität beitragen kann.
Literatur:Erich Ribolits: Abschied vom Bildungsbürger. Über die Antiquiertheit von Bildung im Gefolge der dritten industriellen Revolution. Löcker Verlag, Wien 2013, 168 Seiten.