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Babys lernen anders

Von Albert Bock

Wissen

Kleinkinder erkennen zuerst die Muster einer Struktur, dann den Inhalt. | Sprachfähigkeit ist ab der Geburt vorhanden. | Wien. Wann beginnen Kinder, Sprache zu lernen? Eine Studie des Leipziger Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften liefert Belege dafür, dass das Erkennen grammatikalischer Muster früher beginnt als bisher angenommen.


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Die Forscher untersuchten, wie lange Babys brauchten, um einfache Muster des Satzbaus (Syntax) in einer ihnen ganz neuen Sprache erkennen zu können. Konkret wurde untersucht, wie schnell und ab welchem Alter Kinder aus deutschsprachiger Umgebung Regeln aus dem Aufbau italienischer Sätze ableiten. Das Ergebnis ist eindeutig: Das Grammatiklernen beginnt lange, bevor Säuglinge selbst Sprache produzieren können. Sie erkennen syntaktische Zusammenhänge, wenn sie nur eine Viertelstunde lang Mustersätze gehört haben. Danach können sie unterscheiden, ob der Aufbau einer Äußerung bekannten Regeln folgt oder nicht.

Möglich wurde diese Erkenntnis mit Hilfe von Hirnstrommessungen. Diese zeigten, dass die Kleinen auf inkorrekt konstruierte Sätze anders reagierten als auf korrekte. Sie mussten also selbständig Grammatikregeln erkannt und abgeleitet haben. Und sie wandten sie beim Zuhören an.

Das Verblüffende an den Ergebnissen ist das Alter, ab dem Babys solche grammatischen Regeln ableiten und speichern können: Mit nur vier Monaten ist es so weit. Bisher war man für die Syntax von einem Mindestalter von 18 Monaten ausgegangen. Die neuen Erkenntnisse lassen sich als Unterstützung jener Theorien lesen, die davon ausgehen, dass Menschen einen angeborenen Apparat zur sprachlichen Regelerkennung besitzen, der ihnen beim Erlernen ihrer Muttersprache hilft.

Zudem lernen Kleinkinder Sprachen anders als Erwachsene. Sie erkennen zuerst Muster in der Struktur, etwa nach dem Prinzip "Wenn ich jetzt Silbe A höre, dann erwarte ich mir am Ende der Äußerung Silbe B". Erwachsene beziehen sich dagegen mehr auf die Semantik. Das heißt, sie orientieren sich am Bedeutungszusammenhang. Das können Babys nicht, weil ihnen der Wortschatz und das Weltwissen fehlen.

Wie schon lange angenommen, gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen dem Erst- und dem Zweitspracherwerb. Die Studie beleuchtet einen der Gründe dafür, dass Kinder Sprachen scheinbar mühelos erlernen. Erwachsene tun sich meist viel schwerer.

Um die Mitte des 20. Jahrhunderts hatte man sich den menschlichen Spracherwerb vor allem durch die behavioristische Denkschule erklärt. Demnach verhält Sprache sich wie ein bedingter Reflex und werde durch Wiederholung und Verstärkung gelernt. Unterstützt werde das am besten durch Drill. Das Modell wollte man in den letztlich ziemlich erfolglosen Sprachlabors der 1960er und 1970er didaktisch umsetzen.

Kreative Sprachfähigkeit

Der Ansatz konnte aber eines nicht erklären: die menschliche Fähigkeit, sprachliche Regeln kreativ zu verwenden, um nie zuvor Gehörtes sagen zu können. Wie konnte es möglich sein, dass Kleinkinder korrekte Strukturen konstruierten, die sie so noch nicht gehört hatten? Offensichtlich lag mehr vor als das Abrufen eines antrainierten Reflexes.

Den in den letzten Jahrzehnten einflussreichsten Erklärungsversuch unternahm Noam Chomsky, der Doyen der modernen Linguistik. Er hielt den Behavioristen seine Annahme eines "Sprachorgans" entgegen: Die menschliche Sprachfähigkeit sei in ihren Grundzügen von Geburt an vorhanden. Menschen würden mit einem Vorwissen über mögliche sprachliche Strukturen geboren, was ihnen beim Erlernen einen Großteil der Arbeit abnehme. Die neuen Daten scheinen die Theorie vom "Sprachorgan" zu stützen.

Eine Konsequenz für das praktische Leben lässt sich auf jeden Fall aus den neuen Erkenntnissen ziehen: Babys beginnen Grammatik zu lernen, viele Monate bevor sie selbst komplexe Sätze bilden können. Eltern, die mit ihren Kindern in verstümmelten Sätzen sprechen oder die Grammatik vereinfachen, "damit die Kleinen uns leichter verstehen", tun ihnen damit sicher nichts Gutes.