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Bachelets Erbe

Von Konstanze Walther

Politik

Die sozialistische Präsidentin hat erst in ihrer zweiten Amtszeit Reformmut bewiesen, was nicht allen gefällt.


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Am Sonntag, dem 19. November finden in Chile Präsidentschaftswahlen statt. Die Amtszeit der Sozialistin Michelle Bachelet, die als einzige Politikerin in der jüngeren Geschichte Chiles schon zweimal das Präsidentenamt innehalte, geht zu Ende. Sie darf dieses Mal nicht antreten, denn die chilenische Verfassung verbietet die anschließende Wiederkandidatur eines Präsidenten. Derzeit sehen alle Umfragen den konservativen Sebastian Piñera beim ersten Wahldurchgang in Führung. Auch Piñera war schon einmal Präsident - zwischen den Amtszeiten von Bachelet.

In Chile hat der Schulterschluss zwischen Parteien, die als Koalition antreten, große Tradition. Nur so konnte man die Diktatur Augusto Pinochets Ende der 1980er Jahre durchbrechen. Doch dieses Mal hat eine Partei, die "Democracia Cristiana", den sozialistischen Block verlassen, und hat eine eigene Kandidatin aufgestellt. Sozialistische Politiker befürchten, dass so die Wählerschaft in Chile zugunsten der Konservativen zersplittert wird.

Die Diktatur Pinochets hat auch wirtschaftlich tiefe Spuren im Land hinterlassen. Die in der gleichnamigen Stadt ausgebildeten "Chicago Boys" - chilenische Ökonomen in der Tradition Milton Friedmans - setzten zur Zeit von Pinochet die Idee der freien Märkte im repressiven Staat um. Chile ist heute als einziges Land in Südamerika Mitglied in der Organisation der Industrienationen (OECD) und weist das höchste Pro-Kopf-Einkommen des Kontinents auf. Gemessen am Gini-Koeffizienten hat Chile aber mit einem Wert von 50,5 (2013) die höchste soziale Ungleichheit innerhalb der OECD Länder.

Nun deutet alles darauf hin, dass der Konservative Piñera, dem Umfragen jetzt schon mit 44 Prozent führt, auch die Stichwahl für sich entscheiden wird. Die progressiven Kräfte werden sich auch in der Stichwahl nicht einigen können, erzählt der sozialistische Politiker Johnny Carrasco Cerda im Interview. Carrasco ist eine chilenische Institution - er steht seit über einem Viertelhundert seiner Gemeinde Pudahuel in Santiago de Chile vor.

"Wiener Zeitung": Nachdem Südamerika in Anfang der 2000er fast gänzlich eine Linkswende erlebt hat, scheint das Pendel nun in die andere Richtung auszuschlagen. In Argentinien ist ein Konservativer Präsident. In Brasilien ebenso, auch Peru hat konservativ gewählt. Nun scheint Chile mit Piñera an der Reihe zu sein. Oder ist das eine zu einfache Darstellung?Johnny Carrasco Cerda: Jedes Land hat seine eigene Geschichte, die Geschichte, die wir selbst zusammenzimmern. Chiles jüngere Geschichte fängt damit an, dass eine Mehrparteien-Koalition, die "Concertación", wie wir es nennen, es geschafft hat, den Diktator Pinochet aus dem Amt zu bekommen (1988 haben sich alle linksgerichteten Oppositionsparteien in einem Schulterschluss zusammengetan, um die Abwahl von Pinochet zu ermöglichen, Anm.). Seit dem Ende der Militärdiktatur kamen bis auf Sebastián Piñera alle chilenischen Präsidenten aus dem Lager der Concertación, die sich später "Nueva Mayoría" und schließlich seit August 2017, mit dem Abgang der "Democracia Cristiana" in "Fuerza de Mayoría" umbenannt hat. Die Democracia Cristiana war im bisherigen Abgeordnetenhaus die zweitstärkste Einzelkraft. Jetzt tritt unser Lager mit mehreren Kandidaten an, Alejandro Guillier, der derzeit auf 30 Prozent kommt, und Carolina Goic mit sechs Prozent. Und dann ist 2017 noch eine linke Bewegung gegründet worden, die das alte Zwei-Parteien-Verhältnis aufbrechen wollte. Diese "Frente Amplio" kommt mit der Kandidatin Beatriz Sanchez auf 11 Prozent. Es ist also eine Diaspora der linken Kräfte.

Wieso ist die Democracia Cristiana ausgeschert?

Sie haben sich wahrscheinlich überstimmt gefühlt. Die Democracia Cristiana steht der katholischen Kirche sehr nahe. Es gab eine große Aufregung um die Lockerung des Abtreibungsverbotes. Chile hatte ja bis vor kurzem eines der strengsten Abtreibungsgesetze der Welt. Für Michelle Bachelet, die selbst Ärztin ist, ist es aber ein wichtiges Thema gewesen, dass Frauen die Schwangerschaft beenden dürfen. Seit Sommer dieses Jahres ist nach langem Hin und Her ein Schwangerschaftsabbruch in Chile immerhin in drei Fällen legal: Bei einer Vergewaltigung, falls das Leben der Mutter bedroht ist oder falls der Embryo nicht lebensfähig ist.

Wenn Bachelet das so wichtig war, wieso hat sie die Lockerung des Abtreibungsverbots nicht schon in ihrer ersten Amtszeit eingebracht?

Ja, das ist eine Frage, die sich alle stellen. Ich glaube, und das ist auch eine Selbstkritik an uns, dass sich bei ihrer ersten Amtszeit die Präsidentin mehr damit beschäftigt hat, bloß das bisherige neoliberale Modell zu verwalten. Jetzt in der zweiten Periode traute sie sich viel mehr. Sie hat nun beim zweiten Mal eine viel tiefgreifendere Veränderung versucht anzuschieben. Sie hat auch etwa die Steuerreform angepackt. Damit jene mehr zahlen, die mehr verdienen. So hat sie versucht, die Universitätsausbildung zu finanzieren, damit Bildung nicht mehr so viel für die Studenten kostet.

2011 war der Höhepunkt bei den Studentenprotesten. Chiles Studenten lehnen sich seit Jahren gegen Pinochets Bildungssystem auf, das sich nur die Reichen leisten konnten. Bachelet ist seit 2014 wieder Präsidentin. Sie hat damals Gratisbildung für alle versprochen. Vor kurzem sind die Proteste der Studenten aber wieder aufgeflammt. Die sind also noch immer unzufrieden, weil sie noch immer nicht gratis studieren und sie das Gefühl haben, dass der private Sektor zu viel mitredet.

Es war ein Fehler, zu versprechen, dass alle Studenten gratis studieren werden. Aber anders als früher studieren heute immerhin 60 Prozent gratis. Dank der Steuer- und Abgabenreform. Natürlich gibt es nun welche, die sagen, die Steuern sind zu hoch (Bachelet hat die Unternehmenssteuer auf 25 Prozent angehoben - zum Vergleich: In Österreich beträgt die Körperschaftssteuer ebenfalls 25 Prozent, Anm.). Diese hohen Steuern würden Arbeitslosigkeit generieren. Andere sagen, die Steuern sind zu niedrig.

Sie beklagen die Diaspora der linken Kräfte, aber nachdem Piñera im ersten Wahldurchgang wohl nicht über 50 Prozent kommt, könnte die Linke sich ja in der Stichwahl auf eine Person einigen.

Leider sieht es meines Erachtens nach nicht so aus, als ob man sich einigen wird. Alles deutet daraufhin, dass wir Piñera bekommen. Der hat sich wiederholt gegen eine Gratisbildung ausgesprochen. Er will auch den Schwangerschaftsabbruch wieder komplett verbieten und die Steuern senken. Das wird für die Zivilgesellschaften riskant. Die Studentenbewegung kritisiert zwar die Methoden der Präsidentin, und ja, sie hat 100 Prozent gratis versprochen, und es sind nur 60 Prozent geworden, aber unter Piñera wird das ganz anders aussehen.

Bachelet hat sich, auch erst dieses Jahr, bei dem Volk der Mapuche für erlittenes Unrecht entschuldigt und will die Rechte der Ureinwohner stärken. Das scheint nicht zu gelingen, im Gegenteil, es gibt derzeit eine radikale Mapuche-Bewegung, die Kirchen anzündet. Wie kann es da Versöhnung geben?

Nun es ist unbestreitbar, dass der chilenische Staat eine historische Schuld im Zusammenhang mit dem Volk der Mapuche auf sich geladen hat. Ihre Ländereien wurden ihnen weggenommen, und inzwischen kämpfen sie seit mehr als 600 Jahren für Wiedergutmachung. Es gibt derzeit zwei Strömungen - die meisten wollen eine demokratische Lösung, mehr Schulen in ihrer eigenen Sprache, eine bessere Gesundheitsversorgung, bessere politische Vertretung. Und dann gibt es die Radikalen, die nicht nur Kirchen anzünden, sondern auch Lastwägen, und damit auch fast das ganze Versorgungssystem im Süden Chiles an den Rande des Zusammenbruches bringen. Es ist ein komplexes Thema, und ich kann Ihnen heute leider nicht sagen, in welche Richtung es in Zukunft gehen wird.

Zur Person

Johnny Carrasco Cerda

ist seit 1992 Bürgermeister eines Stadtteils von Santiago de Chile. Er ist Mitglied der sozialistischen Partei Chiles sowie persönlicher Freund der Präsidentin Michelle Bachelet. Carrasco war anlässlich eines Treffens der Sozialdemokraten in Wien und hielt einen Vortrag am Karl-Renner-Institut.