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Badinter: "Es geht um den Sieg der Menschheit über ihre Henker"

Von Andreas Osterhaus

Politik

Paris - Der Gnadenaufruf für den ehemaligen französischen Nazi-Kollaborateur Maurice Papon kam überraschend. "Papon ist ein Greis", stellte der langjährige französische Justizminister und Verfassungsratspräsident Robert Badinter fest. "Ihn weiter im Gefängnis festzuhalten, nützt nichts mehr." Ähnlich wie Badinter äußerten sich auch der angesehene Rabbi Gilles Bernheim und der mit seinem Dokumentarfilm "Shoah" bekanntgewordene Filmemacher Claude Lanzmann. Der Anwalt mehrerer Papon-Opfer Serge Klarsfeld warf Badinter vor, bei seiner Forderung nur an seine mögliche Aufnahme in die Academie Francaise gedacht zu haben.


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Papon ist 90 Jahre alt und wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt - zehn Jahre Haft für einen so genannten Schreibtischtäter, der daran mitgewirkt hat, dass 1.500 Juden aus Frankreich in Konzentrationslager verschleppt wurden. Acht von ihnen überlebten.

Badinter hingegen ist Sohn eines jüdischen Kürschners, der 1942 in ein KZ geschleppt wurde, wo er ums Leben kam. Das Plädoyer des Opfers für den Täter machte hellhörig. Eine Debatte über Unrecht und Gnade setzte ein. Sie erhielt neue Nahrung, als der Europäische Menschenrechtsgerichtshof befand, Papon habe Anspruch auf ein Eilverfahren.

Die Justiz scheint Kopf zu stehen: Papon hat nicht nur die Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten auf dem Gewissen. Er hat Anfang der 60er Jahre als Polizeipräfekt von Paris bei der Niederschlagung von Algerier-Protesten eine finstere Rolle gespielt, als Dutzende Algerier von der Polizei in die Seine gestürzt wurden und ertranken. Und mit 89 Jahren war Papon immerhin noch agil genug, um sich dem Richterspruch zu seiner Nazi-Kollaboration durch Flucht in die Schweiz zu entziehen, selbst wenn er nach ein paar Tagen wieder eingefangen wurde.

"Soll Papon seinen 91. Geburtstag in Freiheit feiern?", fragte aufgeschreckt die Tageszeitung "Liberation", als Badinter seine Lanze für den alten Häftling brach. Angehörige von Deportierten und der französische Zentralrat der Juden wandten sich gegen eine vorzeitige Haftentlassung. Das hatte der frühere Justizminister vorhersehen können. So fuhr er starke Argumente auf, um seinen Gnadenappell zu untermauern. Gewiss habe die Justiz die Aufgabe, "die Fakten über Verbrechen und die Verantwortlichen festzustellen". Aber neben dem Sieg des Rechtsstaates gehe es um einen wichtigeren, moralischen Sieg - "den Sieg der Menschheit über ihre Henker". In diesem Sinne verfügt der Sozialist Badinter in Frankreich über eine kaum zu überbietende Autorität, war er es doch, der 1981 als Justizminister unter Präsident Francois Mitterrand die Abschaffung der Todesstrafe durchsetzte.

Mit dem Spruch der Straßburger Richter vom Dienstagabend ist in der Sache noch nichts entschieden. Sie beschlossen zunächst lediglich eine Beschleunigung des Verfahrens, das sich dennoch noch über Monate hinziehen wird. Sollten der Menschenrechtsgerichtshof letztlich für eine Freilassung des 1998 verurteilten Nazi-Kollaborateurs stimmen, müsste Frankreich das Urteil in jedem Fall umsetzen. Vielleicht aber trägt der Appell Badinters schon zuvor zu einem Stimmungswandel bei. Papons Anwälte haben schon mehrfach Gnadengesuche an den französischen Präsidenten Jacques Chirac gerichtet, der bereits zweimal abgelehnt hat.

Die Opfer Papons werden in Erinnerung halten, dass er selbst sie nicht mit Glacee-Handschuhen angefasst hat. Vor dem Straßburger Gerichtshof stand am Dienstag eine 68-jährige Frau, deren Familie auf Anweisung Papons deportiert wurde. Sie berichtete, dass auch ihre damals zwei und fünf Jahre alten Schwestern Nelly und Rachel in ein Vernichtungslager geschickt wurden. Ex-Justizminister Badinter weiß um die Schmerzen der Vergangenheit. In einer Klarstellung zu seinem Gnadenappell forderte er den alten Mann in seiner Zelle auf, er solle "endlich Worte der Reue und des Mitleids finden".