Die irakische Regierung geht mit Scharfschützen gegen Demonstranten vor. Doch diese einen die Wut und das Gefühl, endlich ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen zu können. Ein Lokalaugenschein.
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Schüsse fallen, Tränengaswolken wehen den Tigris entlang, Krankenwagensirenen heulen auf, Schreie, ein dumpfer Knall, wieder Schüsse - so geht das schon drei Abende und drei Nächte lang. Die irakische Regierung geht mit aller Härte gegen die Demonstranten vom Tahrir-Platz vor.
Diese haben zwischenzeitlich auch vier Tigris-Brücken erobert. Ihr Ziel war, Bagdad lahmzulegen. Daraufhin hat die Regierung den Spezialkräften für Anti-Terror-Kampf den Befehl gegeben, die Protestbewegung aufzulösen und die Brücken zurückzuerobern. Scharfschützen zielen und treffen. Seitdem gibt es jeden Tag Tote und dutzende Verletzte. "Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Verletzte ich heute behandelt habe", sagt ein junger Arzt am Tahrir-Platz am Morgen nach den bislang schwersten Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften. "Es sind zu viele." Seit Beginn der Demonstrationen Anfang Oktober sind im Irak 319 Tote und 18.000 Verletzte zu beklagen.
Am Tahrir-Platz steht ein symbolischer Galgen
Amar hat gerade sein Medizinstudium abgeschlossen und sollte ein Praktikum in einem Bagdader Krankenhaus antreten. Doch jetzt ist er am Tahrir-Platz und betreut eine der mobilen Kliniken, die hier aufgebaut sind. Für einen Erste-Hilfe-Einsatz sind sie gut ausgestattet, haben genug Verbandsmaterial, Medikamente und vor allem Flüssigkeit gegen das ätzende Tränengas, das juckt und die Augen rot werden lässt. Es sei ein neuartiges Gas, das aus großen Patronen auf die Menschen geschossen werde und deren Gehäuse zuweilen tödliche Folgen haben können, informiert Amar, "je nachdem, wo sie den menschlichen Körper treffen".
Amar behauptet zudem, dass in den Patronen Chloringas stecke, ein Giftgas, das zwar nicht auf der Verbotsliste der Chemiewaffen steht, aber großen Schaden anrichten kann. Bewiesen ist diese Behauptung nicht, ausschließen lässt es sich aber auch nicht. Denn Iraks Regierung kennt derzeit keine Gnade.
Der junge Arzt war sieben Jahre alt, als Saddam Hussein von den Amerikanern 2003 gestürzt wurde und diese dann mit ebenfalls brutaler Härte den Irak umkrempelten. Jetzt steht er in der Rasheedstraße, etwa 200 Meter vom Tahrir-Platz entfernt, mit einer Gasmaske um den Hals und will selbst mit tausenden anderen Demonstranten sein Land umkrempeln. Blickt man in die vielen jungen Gesichter, die vor Energie sprühen und die Wut auf ihre Regierung ausdrücken, die sie nur verächtlich Diebe nennen, wird einem schnell klar, dass das hier so schnell nicht zu Ende gehen wird - auch wenn die Sicherheitskräfte zunächst einmal hart durchgreifen.
Den Tahrir-Platz selbst haben sie aber bis jetzt nicht angetastet. Die Szenerie dort ist ähnlich wie in Kairo vor achteinhalb Jahren. Auch in Bagdad gibt es Ordner, die den abgesperrten Bezirk kontrollieren, Taschen- und Leibesvisitationen durchführen, damit kein Sprengsatz den Platz mitsamt den vielen Menschen in die Luft jagt. Ein symbolischer Galgen hängt auch auf dem Tahrir-Platz in Bagdad, an dem Puppen Präsident, Premier und Parlamentspräsident verkörpern sollen. Und jeden Tag wird ein neues Foto eines Politikers auf die Straße gelegt und mit einem roten Kreuz durchgestrichen. Einmal ist es Parlamentspräsident Mohammed al-Halbusi, ein anderes Mal Premier Adel Abdul Mahdi.
Gegen Mittag füllt sich der Platz, vor allem kommen Frauen, Kinder, Studenten. Ganze Familien pilgern dorthin. Es herrscht Partystimmung mit Revolutionsliedern und Lesungen. Kerzen werden aufgestellt, und es wird der toten Demonstranten gedacht. Selten sind im Irak nach all den Kriegen und dem Terror strahlende Gesichter zu sehen. Doch jetzt haben die Menschen das Gefühl, endlich ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen zu können.
Aufstand der Frauen gegen das Establishment
Der tödliche Einsatz der Sicherheitskräfte dämpft zwar die Stimmung, die Einstellung bleibt aber die gleiche. Haura kommt jeden Tag zum Tahrir-Platz, seit mehr als zwei Wochen. Sie komme nur tagsüber, sagt die 19-jährige Architekturstudentin, abends sei es zu gefährlich. "Besonders für Frauen allein." Abends brechen immer die Kämpfe aus, nicht direkt auf dem Tahrir-Platz, in den Seitenstraßen, auf und unter den Tigris-Brücken. Die Szene hat sich geteilt in die Masse auf dem Platz und die Kämpfer drumherum.
Haura ist eine couragierte junge Frau, wie es derzeit viele im Irak gibt. Der Aufstand gegen die von den USA eingesetzte politische Elite, die sich beständig im Kreis dreht und sich die Posten gegenseitig zuschachert, ist auch ein Aufstand der Frauen gegen das Establishment, das ihnen keine Chance zur Erneuerung gibt.
Die Demonstrationsbewegung eint ein Ziel: Weg mit der Regierung! Weg mit dem korrupten Regime! Weg mit dem Machtverteilungsproporz! Diesen Proporz haben die USA 2003 eingeführt. Seitdem ist der irakische Präsident ein Kurde, der Premierminister ein Schiit und der Parlamentspräsident ein Sunnit. Da alle an der Macht sitzen und somit jeder einen Teil davon abbekommt, gibt es keine Kontrolle, der Korruption ist damit Tür und Tor geöffnet, und das Ringen um das größte Stück vom Kuchen wird zuweilen blutig ausgetragen. "Damit muss jetzt Schluss sein", sagt Haura bestimmt.
Doch es sieht nicht danach aus, dass dies bald geschieht. Iran solle hinter dem Beschluss stecken, mit brutaler Gewalt die Demonstrationen aufzulösen, ist am Tahrir-Platz zu hören - und von Nachrichtensendern, die der Opposition gewogen sind. Der berüchtigte iranische General Qassem Soleimani soll in Bagdad gewesen sein und sämtliche Regierungsparteien, bis auf eine, dazu bewogen haben, der Operation zuzustimmen. Premier Abdul Mahdi solle im Amt bleiben, die Protestbewegung niedergeschlagen werden.
Ein Protest ohne klare Anführer
Am Tahrir-Platz gibt es ein einziges Hochhaus, das direkt am Anfang der Jumhurija-Brücke über den Tigris steht, die je zur Hälfte durch die Protestbewegung und Regierungstruppen besetzt ist und zum Regierungsviertel, der sogenannten Grünen Zone, führt. Das Haus ist zum Hauptquartier der Bewegung geworden. Alle nennen es das "türkische Restaurant". Dort werden in der oberen Etage die Einsätze und das Vorgehen beraten, trifft sich ein Organisationsteam, wenn man überhaupt davon sprechen kann. Denn diese Proteste kommen bislang ohne Führung aus.
Am türkischen Restaurant hängen Transparente und Poster mit Revolutionsslogans an den langen Wänden des Gebäudes: "Raus mit dem Iran!" "Raus mit Amerika!" Und, Ironie des Schicksals: "Raus mit den Türken!" "Irak den Irakern!" Neben den USA und der Türkei hat der Iran mittlerweile den größten Einfluss im Irak. Teherans Arm reicht weit in die irakische Regierung hinein. Ohne Iran läuft nichts im Irak. Doch die Menschen haben es satt, ständig von anderen Mächten beeinflusst und dirigiert zu werden.