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Bald allein in Kiew?

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Die USA rüsten sich für die Wahlen 2024. Einmal mehr steht für die EU viel auf dem Spiel.


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Wen die Götter strafen wollen, dem erfüllen sie seine Wünsche: Der vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron bei jeder passenden wie unpassenden Gelegenheit vorgetragene Traum von Europas Souveränität könnte schneller näher rücken, als den meisten seiner Fans lieb sein kann.

Macrons als Distanzierung von Taiwan verstandenen Äußerungen lassen die Wogen in Europa und den USA hochgehen - sehr zur Freude Chinas. Im Kern beharrt der selbstbewusste Franzose darauf, dass sich Europa nicht im Schlepptau der USA in einen Konflikt um die nach Unabhängigkeit strebende Insel hineinziehen lassen dürfe und die EU eine von Washington unabhängige Strategie gegenüber Peking entwickeln müsse.

Diese Debatte erfolgt zur Unzeit, denn in den USA sind Demokraten und Republikaner gerade dabei, sich auf das Wahljahr 2024 vorzubereiten, in dem ein neuer US-Präsident, das gesamte Abgeordnetenhaus und ein Drittel des Senats gewählt werden.

Eine der zentralen Fragen dabei wird wohl die weitere Unterstützung für die Ukraine in ihrem Widerstand gegen Russland sein. Bisher schultern die USA mit rund 43,5 Milliarden Euro den Löwenanteil der militärischen Hilfen für Kiew (plus 11 Milliarden Euro an Finanzhilfen) und sorgen im Hintergrund dafür, dass der Westen halbwegs geeint gegen Moskau auftritt. Diese enormen Geldsummen sähen viele US-Wähler lieber im eigenen Land für die eigenen Leute ausgegeben statt für einen Krieg weitab von ihren Grenzen und Interessen. Und wenn sich die USA schon international engagieren sollen, dann gegen den Aufstieg Chinas, das parteiübergreifend als einzige echte Bedrohung für die eigene Machtstellung gesehen wird. Von daher droht das massive US-Engagement zugunsten der Ukraine demnächst an ein Ende zu kommen. Womöglich stehen die Europäer im kommenden Jahr Putin ziemlich einsam gegenüber.

Die ungeschminkte Wahrheit zum jetzigen Zeitpunkt ist: Europa ist nicht reif für die eigene Souveränität. Die EU hat weder die Mittel noch den politischen Willen, ihre Interessen auf globaler Ebene aus eigener Kraft zu schützen und durchzusetzen. Dazu brauchen wir Partner, die uns unterstützen und mit deren Interessen wir zumindest halbwegs kongruent gehen.

Dabei muss es trotzdem das Ziel der EU sein, strategische Souveränität zu erreichen. Allerdings dürfte bis zum heutigen Tag wohl lediglich einer verschwindend kleinen Minderheit der EU-Bürger klar sein, was das überhaupt bedeutet - im Positiven wie im Negativen. Allein daran lässt sich erkennen, wie weit und steinig dieser Weg noch sein wird.