Zum Hauptinhalt springen

Barack Obama - Politiker

Von David Ignatius

Kommentare

Möglicherweise ist der US-Präsident in seiner zweiten Amtszeit so weit, die Berufung als Politiker im Sinne von Max Weber anzunehmen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

In seinem Essay "Politik als Berufung" schrieb der deutsche Soziologe Max Weber 1919: "Politik ist ein kräftiges und ausdauerndes Bohren harter Bretter." In diesem Sinn kann es durchaus sein, dass US-Präsident Barack Obama nun am Beginn seiner zweiten Amtszeit so weit ist, die Berufung zum Politiker anzunehmen. Manches, was er auf seinem Weg gelernt hat, der Politiker zu werden, der diese harten Bretter bohren kann, macht mich traurig. Sein Tonfall gefällt mir besser, wenn er versucht, alle US-Bürger anzusprechen - auch jene, die ihn nicht gewählt haben -, als der, in dem der eine programmatische Agenda vorträgt, wie bei seiner zweiten Antrittsrede.

Viel haben Obama seine Versuche, die USA über die Parteigrenzen hinweg zu vereinigen, nicht gebracht. Manchmal erschien er in den vergangenen vier Jahren als der Letzte in Washington, der noch an die Mitte glaubt. Nun nicht mehr. Jetzt kommt die Politik, die auf der Tagesordnung steht, die Politik des beharrlichen Kampfs, bei Themen, die ihm wichtig sind: Klimawandel, die Rechte der Homosexuellen, wirtschaftliche Gerechtigkeit, Schutz von sozialen Programmen.

Aber die USA brauchen einen Präsidenten, der mehr kann, als eine überparteiliche Agenda - zunehmend - voranzubringen. Ein Präsident, der vermag, das Land um sich zu scharen, um Medicare und Social Security umzustrukturieren, damit sie im 21. Jahrhundert fortbestehen können, mag ein großartiger Präsident sein. Aber Obama bewegte sich bei seiner Antrittsrede am Montag in eine andere Richtung.

Ausweichend war Obama in seiner ersten Amtszeit, mit seiner trockenen, zurückhaltenden Art, die Zweifel weckte, ob er Politik überhaupt mag. Rückblickend wird deutlich, dass er in diesen vier Jahren herauszufinden versuchte, was geht und was nicht.

Immer, wenn ich versuche, Obama zu verstehen, komme ich auf seine Autobiografie "Dreams from My Father" zurück, einen bemerkenswert intelligenten Bericht über seine Identitätssuche und die wild entschlossene, selbstgeformte Persönlichkeit, die daraus hervorgegangen ist. Diesmal ist mir bei der Lektüre das Vorwort besonders aufgefallen, erschienen kurz nach seiner Nominierung als Kandidat für den US-Senat. Obama beschreibt die Reaktionen auf die erste Auflage des Buches 1995: "Die Rezensionen waren gelinde wohlgesinnt. Die Verkaufszahlen waren unterwältigend." Er war "froh, die Angelegenheit mit mehr oder weniger intakter Würde überlebt zu haben".

Der Obama, der 2009 ins Weiße Haus einzog, war ein Treibhausgewächs. Was er verbarg, war - wie mein Kollege David Maraniss, der klügste Obama-Chronist, jüngst schrieb - seine Unerfahrenheit. Er hat durch seine bitteren Kämpfe mit den Republikaner-Parteiführern, dem russischen Präsidenten und dem israelischen Premier dazugelernt und sich entwickelt. Den Träumer gibt es nicht mehr, an seine Stelle ist der Politiker getreten. Das ist die härtere, doktrinärere Persönlichkeit, der wir am Montag beim Ablegen des Amtseids zusahen.

Übersetzung: Redaktion

Originalfassung "Barack Obama - politician"