In seinem Buch "Utopia" entwarf der englische Humanist Thomas More, der sich selbst Morus nannte, im Jahr 1516 das Bild einer neuen Welt, in der sich Fortschritt und Überwachungsstaat mischen.
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Vor 500 Jahren erschien in der belgischen Universitätsstadt Löwen ein Büchlein, das zwar nicht sehr umfangreich war, aber heute als ein Klassiker der politischen Philosophie gilt und einem ganzen Genre den Namen gab. Die Rede ist von "Utopia", einem Werk des englischen Humanisten Thomas More, der außerhalb England unter dem latinisierten Namen Thomas Morus bekannt geworden ist.
Morus war eine schillernde Persönlichkeit und spielte in einer turbulenten Phase der englischen Geschichte eine bedeutende Rolle. Er wurde 1478 in London geboren und erhielt eine umfassende Ausbildung. Nach dem Studium spielte er mit dem Gedanken, in ein Kloster einzutreten, fürchtete aber, der Ehelosigkeit nicht gewachsen zu sein. Er entschied sich daher für ein weltliches Leben, blieb aber ein frommer Katholik und war auch asketischen Übungen nicht abgeneigt.
Im Alter von nur 26 Jahren wurde Morus in das Parlament gewählt - und dies war der Beginn einer großen politischen Karriere: Bald wurde er im Auftrag des Königs mit diplomatischen Missionen betraut und sogar zum Präsidenten des Parlaments gewählt. Neben der Politik engagierte sich Morus in religiösen Fragen, schrieb gegen die Thesen von Martin Luther an und unterstützte die Positionen der katholischen Kirche gegen den aufkommenden Protestantismus.
Gelehrter und Kanzler
Sein Haus in London galt als ein Treffpunkt der Gelehrten und Künstler, der Maler Hans Holbein, der ihn auch porträtiert hat, war bei ihm zu Gast, und mit dem Humanisten Erasmus von Rotterdam verband Morus eine lebenslange Freundschaft.
Aufsehen erregte Thomas Morus übrigens auch wegen der Erziehung seiner Kinder. Er ließ seinen Töchtern die gleiche Bildung zukommen wie seinen Söhnen und griff auf damals ungewöhnliche Methoden zurück: Lob und ein respektvoller Umgang mit den Kindern waren ihm wichtiger als Strafe. Zu dieser Zeit war dies eine auffallende Einstellung, sie war aber erfolgreich, denn seine älteste Tochter, Margaret Roper, galt als die gebildetste Frau ihrer Zeit.
Seine Karriere schritt weiter voran: 1529 wurde er Lordkanzler unter König Heinrich VIII. und damit einer der höchsten Würdenträger des Landes. In dieser Funktion sollte More helfen, die Scheidung des Königs von dessen Frau Katharina von Aragon zu arrangieren. Der Papst stimmte der von Heinrich gewünschten Annullierung der Ehe aber nicht zu. Heinrich nutzte dies zum Bruch mit dem Katholizismus, rief sich selbst zum Oberhaupt der Church of England aus und schuf damit die anglikanische Kirche.
Thomas Morus blieb in dieser Situation der katholischen Kirche treu, er kritisierte die Entscheidung des Königs heftig und legte seine politischen Ämter zurück. Die Folgen bekam er bald zu spüren: Er wurde eingekerkert, zum Tode verurteilt und am 6. Juli 1535 hingerichtet. Morus starb, weil er die Einheit der Kirche wahren wollte, und wurde wegen seines Märtyrertodes vierhundert Jahre später heiliggesprochen. Papst Johannes Paul II. ernannte ihn im Jahr 2000 schließlich wegen seiner Standhaftigkeit und Prinzipientreue zum Patron der Politiker und Regierenden.
Aber kommen wir nun zum bedeutendsten Werk, das Thomas Morus hinterlassen hat, nämlich der Beschreibung der Insel Utopia, deren Name sich aus den griechischen Wörtern ou ("nicht") und topos ("Ort") ableitet.
Eine fiktive Reise
Das lateinisch geschriebene Büchlein wird von einer Rahmenhandlung umfasst: Morus reist demnach im königlichen Auftrag nach Antwerpen und trifft dort zufällig einen Seefahrer namens Raphael Hythlodeus. Die beiden kommen ins Gespräch und philosophieren im ersten Teil des Buches über verschiedene politische und soziale Fragen.
Morus nützt dies, um durch den Mund seines Gesprächspartners die Zustände in England zu kritisieren, vor allem die leichtfertig und zu oft verhängte Todesstrafe - Jahre später sollte er dieser selbst zum Opfer fallen. Schuld an all den Missständen ist nach Meinung des Seemannes übrigens das Privateigentum, denn "überall, wo es noch Privateigentum gibt, wo alle an alles das Geld als Maßstab anlegen, wird kaum jemals eine gerechte und glückliche Politik möglich sein."
Der zweite Teil des Buches enthält die eigentliche Beschreibung der Insel Utopia. Der Seefahrer Hythlodeus behauptet, dort mehrere Jahre gelebt zu haben und schildert Morus nun diese sagenhafte Gegend. Viel Wundersames hat er dort gesehen, anstelle der engen Gassen der europäischen Städte kann man in Utopia über breite und lichtdurchflutete Boulevards wandeln. Die Arbeitszeit ist auf sechs Stunden täglich begrenzt und trotzdem geht es allen Einwohnern gut, niemand muss einen Mangel leiden. Während sich zu jener Zeit in Europa Katholiken und Protestanten feindselig gegenüberstanden, leben in Utopia die Anhänger unterschiedlicher Religionen friedlich nebeneinander.
Aber Utopia ist kein Paradies und kein Schlaraffenland, es ist ein Staat mit vielen Schattenseiten. Die Privatsphäre ist abgeschafft, denn "überall sieht die Öffentlichkeit dem Einzelnen zu und zwingt ihn zur Arbeit und zur Ehrbarkeit". Sämtliche Bereiche des Lebens werden kontrolliert, es herrscht Arbeitspflicht und sogar der Tagesablauf ist für alle gleich. Jede Form der Individualität ist verboten, alle Utopier tragen das gleiche, einfache Gewand. Dieser rigiden Haltung entsprechend ist auch das Tragen von Schmuck verpönt, Gold wird gar so sehr verachtet, dass man daraus Nachttöpfe verfertigt.
Strenges Reglement
In Utopia gibt es keinen privaten Besitz, und alle zehn Jahre muss man umziehen, denn dann werden die Häuser unter den Bewohnern neu verlost. Stadtbewohner müssen in regelmäßigen Abständen auf das Land ziehen, damit alle Teile der Bevölkerung die Arbeit in der Landwirtschaft kennen lernen.
Weitere Einschränkungen: In Utopia gibt es "keine Weinschänke, kein Bierhaus, keine Gelegenheit zur Verführung", und auch das Reisen ist nicht ohne weiteres möglich, denn wer seine Heimatstadt verlassen will, braucht dafür eine Genehmigung. All diese Vorschriften sind rational begründet, denn die Vernunft gilt in Utopia als oberste Maxime.
In Utopia ist also die Idylle mit totalitärer Überwachung gepaart - und aus diesem Grund stellt uns dieses Werk bis heute vor viele Rätsel. Ist es ein reines Gedankenspiel oder doch eine konkrete Handlungsanleitung für eine bessere Welt? Wie konnte der überzeugte Katholik Morus, der für seinen Glauben sogar auf das Schafott ging, eine Welt als ideal darstellen, in der die Vernunft die Religion abgelöst hat?
Angesichts dieser Fragen wird bis in unsere Tage darüber diskutiert, ob Utopia überhaupt ein ernst gemeinter Vorschlag oder lediglich eine "Humanistenposse" war, wie manche Interpreten meinen? Schon das vielfältige Spiel mit Namen spricht für die Deutung, dass es sich bei diesem Werk um einen Scherz unter Gelehrten handle. Es beginnt schon beim Autor: Thomas More hat seinen Namen auf Morus latinisiert, das lateinische Wort "morus" bedeutet aber Narr. Auch der Titel des Buches ist ein Wortspiel, denn das Wort Utopia wird im Englischen genauso ausgesprochen wie Eutopia, was wiederum aus dem Griechischen übersetzt "Gutland" bedeuten würde. Der Name des Seefahrers, der von Utopia berichtet, lautet Hythlo-
deus, was im Griechischen "Schwätzer" bedeutet. Auch das, wovon uns dieser Schwätzer berichtet, hat sprechende Namen, so gibt es etwa den König Ademus, der a-demus, also ohne Volk, ist.
Trotz all der Wortspiele und Gegensätzlichkeiten überwiegt aber die Zahl jener Interpretationen, die "Utopia" ernst nehmen und als Bauplan für einen idealen Staat sehen. Vor allem die Tatsache, dass es auf der sagenumwobenen Insel keinen Privatbesitz gibt, hat More zu einer Ikone der Linken gemacht. Der Philosoph Ernst Bloch nannte "Utopia" "das erste neuere Gemälde demokratisch-kommunistischer Wunschträume". Lenin ließ den Namen Morus auf einem Denkmal großer kommunistischer Denker anbringen, und der sozialistische Theoretiker Karl Kautsky meinte: "Als Sozialist war Morus seinen Zeitgenossen weit voraus."
Katholischer Heiliger
Morus wurde aber nicht nur von dieser Seite als Verteidiger der eigenen Interessen in Beschlag genommen. Papst Johannes Paul II. etwa nannte den Gelehrten, der 1935 heilig gesprochen worden war, wegen seiner Treue zum katholischen Glauben ein Beispiel, das "in hellem Licht" leuchtet. Dieses Lob von ganz unterschiedlichen Seiten passt gut zu den Widersprüchen seines Hauptwerks.
Zu all diesen Ungereimtheiten gehört auch, dass viele Ansichten der Utopier denen von Thomas Morus selbst entgegenstanden. Während im Buch der weit gereiste Seemann Hythlodeus von der Abschaffung des Privatbesitzes schwärmt, meint Morus selbst, "dass man sich niemals dort wohl fühlen kann, wo Gütergemeinschaft herrscht". Auch die religiöse Toleranz, die in "Utopia" herrscht, steht im Gegensatz zu Morus’ tatsächlichem Leben, denn während seiner Amtszeit als Lordkanzler ließ er in mehreren Fällen Protestanten auf den Scheiterhaufen führen.
Trotz aller Widersprüche war "Utopia" für viele Weltverbesserer ein Ansporn, eine neue und heile Welt zu schaffen. All diese Versuche scheiterten, manche hatten für die Betroffenen furchtbare Folgen. Den Glauben an eine ideale Welt hegen aber auch heute viele - ob das auf purer Vernunft beruhende Utopia aber ein gutes Vorbild ist, bleibt dahingestellt.
"Utopia" ist auf Deutsch in zahlreichen Ausgaben greifbar, u.a. bei Insel, Diogenes, Manesse, Anaconda. Der Reclam Verlag (Stuttgart) bietet eine zweisprachige Ausgabe an: Neben dem lateinischen Urtext steht die Übersetzung von Joachim Ritter.
Christian Hütterer, geboren 1974, Politikwissenschafter und Historiker, Dissertation über internationale Zusammenarbeit im Ostseeraum. Lebt und arbeitet in Brüssel.