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Baustelle europäische Demokratie

Von Wolfgang Schmale

Gastkommentare

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Die Zukunft der Demokratie in Europa gibt Anlass zur Sorge. Für Europa gilt, dass die Demokratie entweder europäisch ist, oder sie ist nicht. Das heißt, dass sich die jeweilige konkrete Ausprägung von Demokratie in jedem europäischen Staat einerseits problemlos in mancher Hinsicht von den anderen unterscheiden kann. Das gehört zur verfassungsrechtlichen Vielfalt innerhalb des Demokratierahmens dazu, die auch durch den EU-Vertrag gedeckt ist. Die Erschütterung von Grundfesten der Demokratie wird andererseits durch nichts gedeckt. Und wenn sie zunächst national geschieht wie in Polen, Ungarn oder Rumänien, zieht sie dennoch die Demokratie insgesamt als Staatsform Europas in Mitleidenschaft. Es besteht die Gefahr einer Kettenreaktion wie in der Zwischenkriegszeit, als eine Demokratie nach der anderen umfiel.

Polen hat nun praktisch die Gewaltenteilung ausgehebelt und die Judikative der Exekutive unterstellt. Dazu kommt der Kampf der Regierung gegen die Institutionen und Medien (die vierte Gewalt). Ungarn führt denselben Kampf, der öffentliche Bereich inklusive Kulturinstitutionen wurde zur Versorgung linientreuer Fidesz-Soldaten übernommen, Kritiker werden kaltgestellt. Die rumänische Regierung weicht im Interesse der eigenen korrupten Leute die Antikorruptionsgesetzgebung auf und fällt den Staatsanwaltschaften in den Rücken. Was es genau bedeuten wird, dass der neue tschechische Regierungschef sein Land wie ein Unternehmen führen möchte, lässt sich noch nicht sagen, aber eine Demokratie ist ganz sicher etwas anderes.

Anzeichen wachsender Gefährdung

In anderen europäischen Ländern funktioniert die Demokratie formal betrachtet korrekt, sie zeigt aber Anzeichen wachsender Gefährdung. Zum einen haben einige Rechtsparteien kein demokratisches, sondern ein autoritäres Rechts- und Menschenverständnis, was sich nicht nur auf die demokratische Verfassung, sondern allgemein auf das Recht und die Stellung des Menschen im Recht bezieht. Zum anderen verlieren die bisherigen Volksparteien (Sozialdemokraten, Volksparteien/
Christdemokraten) ihre breite Basis, wenn es sie nicht gleich zerlegt wie in Frankreich und Italien. Früher stabile, wenn auch kleine politische Orientierungen wie Liberale und Grüne werden durch höhere Volatilität charakterisiert.

Auf all diese Entwicklungen wurden noch keine dauerhaften, stabilisierend wirkenden Antworten gefunden: Neuwahlen, Minderheitsregierungen, Koalitionsmehrheiten, die nur so lange halten, bis ein Partner glaubt, bei Neuwahlen gewinnen zu können, Expertenregierungen, mehr sogenannte direkte Demokratie und was es noch an Rezepten im politischen Kochbuch gibt.

Einzig Emmanuel Macrons Strategie scheint den Gordischen Knoten durchgehauen zu haben: Regierung verlassen, Bewegung gründen, ehrlich reden - das bedeutet: Überzeugungen auch gegen den Strom vertreten und durch nachprüfbare Faktenkompetenz untermauern -, auf die Menschen zugehen, dabei parteipolitische Zuordnungen ablehnen, Charisma besitzen, jung sein, den Willen zur Macht haben, ungeniert pro-europäisch sein, zeremoniell begabt sein, ein wenig ein philosophischer Kopf sein . . . Nicht wenig, und in Wirklichkeit natürlich kein Rezept, da das Ganze noch mehr, als es ohnehin in der Politik der Fall ist, von der Persönlichkeit abhängt.

Was Kurz von Macron unterscheidet

Es konnte gut beobachtet werden, dass Sebastian Kurz in Österreich aus Macrons Beispiel erfolgreich Lehren gezogen hat, trotzdem war von Anfang klar, dass er, ganz anders als Macron, mindestens eine zweite Partei brauchen würde, um Kanzler zu werden. Damit dies nicht die SPÖ sein müsste, sondern die FPÖ sein könnte, sind Kurz und die ÖVP weit nach rechts gezogen, was wiederum Macron mitnichten getan hat. Im Gegenteil, er hat das Kunststück geschafft, den Front National zu entzaubern (dieser hat sich nach der Präsidentschaftswahl gespalten), er hat in der direkten Fernsehkonfrontation Marine Le Pen dazu gebracht, ihr wahres Gesicht - nämlich das einer hasserfüllten Politikerin, die keinerlei Fakten beherrscht - zu zeigen, ohne selber Ausfälligkeiten oder Beleidigungen zu begehen.

Ein weiterer Schauplatz: Die britische Demokratie hat formal korrekt funktioniert, das Brexit-Votum ist aus rein formaler Sicht ordnungsgemäß zustande gekommen. Wen aber außer den Hard-Brexiteers, die in absoluten Zahlen eine Minderheit darstellen, überzeugt das? Schließlich zieht der Brexit nicht nur den Nationalstaat Großbritannien in Mitleidenschaft, sondern auch alle anderen 27 EU-Mitglieder, die nicht darüber abstimmen durften, ob sie den Austritt der Briten wollen oder nicht. Ist das Demokratie? Anders gesagt: Es muss dringend diskutiert werden, was demokratisch ist, wenn man zu einer Gemeinschaft wie der EU gehört. Und diese Gemeinschaft ist und bleibt einzigartig, das heißt, die Antwort auf die Frage kann nur EU-spezifisch gefunden werden.

4,6 Prozent aller EU-Bürger entschieden über 500 Millionen

Stellen wir einmal folgende Rechnungen an: Im Juni 2016 stimmten 17,4 Millionen Briten für den Brexit - in der EU gibt es rund 380 Millionen Wahlberechtige. 17,4 Millionen entspricht aufgerundet 4,6 Prozent aller Wahlberechtigten in der EU, die darüber entschieden haben, dass alle mehr als 500 Millionen EU-Bürger (alle Altersstufen zusammengerechnet) im Zuge des Brexit Schädigungen in Kauf zu nehmen haben.

Schon früher haben nationale formale Mehrheiten, die selbst in absoluten nationalen Zahlen Minderheiten waren, die EU eingebremst und die Millionen anderen, die in anderen Mitgliedsländern mit Ja gestimmt hatten, dumm dastehen lassen: So geschehen 2005, als in Frankreich und in den Niederlanden gegen den Vorschlag zu einem europäischen Verfassungsvertrag abgestimmt wurde, was den gesamten bis dahin sehr erfolgreichen Referenden- und Ratifizierungsprozess abrupt beendete.

Als in den Niederlanden 2016 über das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine abgestimmt wurde, beteiligten sich national nur 32 Prozent der Abstimmungsberechtigten; davon stimmten 60 Prozent gegen das Abkommen. Diese 60 Prozent entsprachen 0,007 Prozent aller EU-Wahlberechtigten.

Es ist überdeutlich, dass die Demokratietheorie in der EU entwickelt werden muss, denn solche Verhältnisse haben nichts mit Minderheitenschutz zu tun. Bisher liegt es bei jedem einzelnen Staat, festzulegen, wann Referenden stattfinden können beziehungsweise müssen und welche Regeln gelten. Es wäre überaus sinnvoll, unter den EU-Mitgliedstaaten eine Debatte darüber zu führen, ob nicht Referenden über EU-Angelegenheiten überall den gleichen Regeln hinsichtlich Quorum und Verbindlichkeit folgen sollten.

Nationale Verfassungen im Lichte der EU-Mitgliedschaft

Die Debatte müsste aber weiter gehen, wenn verhindert werden soll, dass eine Minderheit über die ganze EU bestimmt, wie in der Vergangenheit mehrfach geschehen. Bisher hat sich die Diskussion über das vermeintliche oder tatsächliche Demokratiedefizit immer nur auf EU-Institutionen bezogen, das eigentliche Demokratiedefizit liegt aber ganz offenkundig darin begründet, dass man sich beharrlich weigert, darüber zu diskutieren, wie die nationalen Verfassungen der Tatsache, dass der jeweilige Staat zugleich einer Union angehört, gerecht werden können. Das wird ausschließlich in der Perspektive der Wahrung nationaler Rechts- und Verfassungsbesitzstände diskutiert. Diese Fragen nach mehr gemeinsamen Verfassungsgrundsätzen bei den EU-Mitgliedstaaten bilden ein eigenes Feld, das mit dem Hinweis auf den gemeinsamen EU-Rechtsbestand (acquis communautaire), wo manchmal nationale Verfassungsanpassungen nötig sind, nicht erledigt ist.

Zu diskutieren ist also das heikle Thema der Grenzen der nationalen Souveränität da, wo bisher rein nationales Rechtshandeln (zum Beispiel Volksabstimmungen) Auswirkungen auf die gesamte EU hat, denn dies widerspricht dem Unionsprinzip entschieden. Dieses besagt, dass Maßnahmen, die sich auf die gesamte EU auswirken, nur von den dafür vorgesehenen Organen - (Minister-)Rat und EU-Parlament sowie, je nachdem, Europäischer Rat und EU-Kommission - zu beschließen sind. Und zwar in einer Vielzahl von Fällen einstimmig, manchmal mit (qualifizierter) Mehrheit.

Zum Unionsprinzip gehört auch, dass die gemeinsamen Entscheidungen niemanden schädigen, am allerwenigsten die EU-Bürger. Beim Brexit-Votum ist wie gesagt der Widerspruch zum Unionsprinzip eklatant, selbst wenn man einräumt, dass gelegentlich Entscheidungen, die im Ministerrat bloß mit qualifizierter Mehrheit, was aber auch keine kleine Hürde ist, getroffen wurden, aus subjektiv-nationaler Sicht als Schädigung empfunden werden können. Ob so eine Empfindung (wie bei den mit Mehrheit abgestimmten Flüchtlingsquoten) etwas mit rationalen oder Sachgründen zu tun hat, steht auf einem anderen Blatt.

Gerade die EU-Bürger haben vom Unionsprinzip, niemanden zu schädigen, massiv profitiert, hinsichtlich ihrer Rechte, des Konsumentenschutzes, ihrer Freiheit und Freizügigkeit, des Friedens und des ökonomischen Wohlstands, um nur ein paar Aspekte zu benennen. Im Vergleich: Die Regierungen in den Nationalstaaten folgen mindestens teilweise Parteiinteressen. Dass dabei ein Teil der Bürger geschädigt werden kann (wenn nicht sogar soll), ist politischer Alltag.

Die bisherige nationale Volksabstimmungspraxis in der EU, um das zu wiederholen, "darf" dazu führen, dass die EU-Bürger sich schädigen lassen müssen. Es ist bei genauer und kritischer Betrachtung eine absurde Situation. Es wäre gut, im Jahr 2018 darüber endlich EU-weit zu debattieren. Hier versteckt sich das Demokratiedefizit der EU und nicht dort, wo es bisher immer vermutet wurde (mangelnde demokratische Legitimation der Kommission, des Rats, der EZB, des EuGH).

Das angebliche Demokratiedefizit der EU versteckt sich ganz woanders, als bisher angenommen wurde.