Der türkische Regierungschef Erdogan steht vor dem Sprung ins Präsidentenamt. Die Gegenkandidaten sind chancenlos.
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Istanbul. Transparente mit dem Slogan "Nationaler Wille - nationale Stärke" hängen an den gecharterten Fährschiffen, die am Sonntag tausende Istanbuler auf die asiatische Stadtseite bringen, zur Wahlkundgebung des türkischen Ministerpräsidenten, der jetzt zum ersten direkt gewählten Staatspräsidenten werden will. Als der Kandidat auf die Bühne tritt, ertönt sein Wahlkampflied. "Er ist die starke Stimme der Unterdrückten - er ist es, der seine Kraft aus dem Volk bezieht." Die Menschen schwenken die rot-weiß-blauen Fahnen der Regierungspartei AKP und singen lauthals mit: "Der Mann des Volkes - Recep Tayyip Erdogan!"
Wie schon im März zur Kommunalwahl absolviert der begnadete Redner und hemmungslose Populist ein dichtes Wahlkampfpensum im ganzen Land. Wo er auftritt, schlägt ihm Jubel entgegen. Manche vergießen Tränen, wenn er zu sprechen beginnt. "Alles verdanken wir ihm", sagt ein 30-jähriger Mann, "Wohlstand, Sicherheit, eine starke Türkei. Wir lieben ihn." Tatsächlich ist das Wort Liebe nicht übertrieben, um das Verhältnis der meist aus den weniger privilegierten Schichten stammenden Anhänger zu diesem Mann zu charakterisieren.
Seit 2002 ist Erdogan ununterbrochen wiedergewählt worden. Die meisten Türken können sich nicht daran erinnern, wie es vorher war. Und die, die es können, denken meist an Chaos, Inflation, Arbeitslosigkeit oder Militärherrschaft. Schon 1994 hatte der fromme Emporkömmling aus dem Armenviertel Kasimpasa gelernt, wie man Wähler gewinnt: indem man nicht nur redet, sondern handelt. Als Bürgermeister von Istanbul sorgte er für eine umfassende Erneuerung der maroden Infrastruktur. Er beendete die ständigen Wassersperren, ließ öffentliche Busse auch in Slumviertel fahren, brachte der Stadt eine funktionierende Müllabfuhr. Dieses Erfolgsrezept übertrug er als Regierungschef auf das ganze Land. Moderne Fernstraßen und Autobahnen durchziehen heute die Türkei und ermöglichen es Händlern, Obst in die großen Städte und Meeresfisch ins Binnenland zu liefern, und den Möbelproduzenten, Sofas und Einbauküchen in den Irak oder bis nach ganz Europa zu verschicken.
Auch die heruntergekommenen Städte Zentral- und Ostanatoliens sind kaum wiederzuerkennen: Moderne Nahverkehrssysteme, Erdgasnetze, Wohnblöcke und Einkaufszentren prägen das Bild. In vergessenen Provinzmetropolen wie Agri oder Erzincan wurden Universitäten errichtet, auf die der wachsende Mittelstand seine Kinder schickt. Dank Erdogan haben die "schwarzen Türken" Anatoliens nun ähnliche Entwicklungs- und Aufstiegschancen wie die "weißen Türken" der westlichen Provinzen. Und er öffnete der konservativ-frommen Bevölkerung Anatoliens Räume für ihre Religiosität. Das Kopftuch können Frauen jetzt überall tragen, ohne berufliche Nachteile befürchten zu müssen.
Mit seiner liberalen Wirtschaftspolitik und der Annäherung an die Europäische Union gelang es Erdogan gleichwohl, auch liberale Türken für sich zu gewinnen. Wichtiger für die Festigung seiner Macht aber war es, auf die unterdrückten Kurden zuzugehen: Entkriminalisierung des Kurdischen, kurdische Radio- und Fernsehsender, ein Friedensprozess mit der PKK-Guerilla. Heute kann Erdogan mit rund der Hälfte der kurdischen Stimmen rechnen.
Die letzte Bastion des kemalistischen Staates schleifte der Regierungschef, als er das Militär nach einem drohenden Staatsstreich 2007 weitgehend entmachtete. Das Militär, das seit 1960 dreimal geputscht hatte, versteht sich traditionell als Hüter der säkularen Republik. In den sogenannten Ergenekon- und Balyoz-Verfahren wurden mehr als 300 Generäle und hohe Offiziere verhaftet und teils zu langen Gefängnisstrafen verurteilt.
Der Abbau der Demokratie
Als Erdogan im Juni 2011 die Parlamentswahlen mit 49,8 Prozent der Stimmen gewann, stand er im Zenit seiner politischen Laufbahn. Die Wahl markiert aber auch den Wendepunkt seiner Karriere. Von nun an regierte er offen autokratisch. Schon zuvor hatte er Journalisten verhaften lassen, jetzt schaltet er missliebige Medien systematisch aus, untergräbt die Gewaltenteilung durch Gleichschaltung der Justiz, baut den Geheimdienst MIT zu einem Repressionsinstrument der AKP um - auch als Antwort auf den Gezi-Aufstand vor einem Jahr, der den Regierungschef völlig überrumpelte. Seine harte Reaktion führte zu neun toten Demonstranten, mehr als 8000 Verletzten und dazu, dass tausende junge Menschen als "Terroristen" vor Gericht gestellt wurden.
Seither ist die türkische Gesellschaft tief gespalten. Neue Gräben rissen auf, als der größte Korruptionsskandal der türkischen Geschichte im Dezember letzten Jahres das unmittelbare Umfeld Erdogans erschütterte. Der Premier wertete die Razzien als Putschversuch eines "Parallelstaats" um seinen alten Weggefährten, den in den USA lebenden Islamprediger Fethullah Gülen, und dessen mutmaßliche Anhänger in der Polizei und Justiz. Er ließ zehntausende Polizisten, Staatsanwälte und Richter versetzen, den Kurznachrichtendienst Twitter abschalten und Sondergerichte einführen.
Mit ihrem Kandidaten Ekmeleddin Ihsanoglu versuchen die zwei größten Oppositionsparteien, die sozialdemokratische CHP und die ultranationalistische MHP, in das konservativ-islamische Wählerpotenzial der regierenden AKP einzubrechen. Sie setzen darauf, dass der 71-jährige, parteilose Wissenschaftshistoriker und Ex-Diplomat Ihsanoglu mindestens so fromm ist wie der Premier, aber weitaus konzilianter. Während Erdogan polarisiert und spaltet, will der kosmopolitische Ihsanoglu die Gesellschaft mit sich und dem Ausland versöhnen. Ihsanoglus größtes Manko bleibt, dass er zwar moralisch integer ist, aber farblos wirkt. Ihm fehlen der Biss und das Machogehabe, das viele autoritätsfixierten Türken von einem Politiker erwarten.
Ganz anders der dritte Kandidat Selahattin Demirtas von der linken, kurdisch geprägten Demokratischen Partei der Völker (HDP). Der 41-jährige kurdische Rechtsanwalt ist ein Vollblutpolitiker und schlagfertiger Redner, der frischen Wind in die ritualisierte türkische Politik bringt. Er will als "Volkskandidat des Wechsels" die Linken, Kurden, Arbeiter, Aleviten und andere Minderheiten hinter sich versammeln, fordert mehr Demokratie und einen Abbau des Zentralismus. Obwohl er wegen der ihm unterstellten Nähe zur PKK wohl keine Chance hat, in eine mögliche Stichwahl zu gelangen, könnte er genügend Stimmen auf sich vereinen, um einen Sieg Erdogans im ersten Wahlgang zu verhindern. Dann könnte er gegen politische Zugeständnisse mit einem Wahlaufruf für einen der zwei Kandidaten das Zünglein an der Waage spielen.
Für Erdogan geht es jetzt um die politische Zukunft und sein politisches Projekt - die Verschmelzung von neoliberaler Wirtschaftspolitik mit neoislamischer Restauration. Er hat sofort mit scharfer Kritik an der obersten Wahlbehörde reagiert, als die schwache Wahlbeteiligung der Auslandstürken bekannt wurde, mit deren Stimmen er die Verluste bei der Kommunalwahl im März auszugleichen hoffte. Dass die Regierung 18 Millionen zusätzliche Wahlzettel drucken ließ, hat Befürchtungen bezüglich Manipulationen wachsen lassen.
Bevor Erdogan erstmals bei Parlamentswahlen siegte, hatte er vier Monate ins Gefängnis gemusst, weil er folgende Zeilen aus einem religiösen Gedicht zitiert hatte: "Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme, die Moscheen unsere Kasernen und die Gläubigen unsere Armee." Politische Beobachter rätseln nun, ob die präsidiale Autokratie langfristig von Erdogan geplant war oder ob ihn die Jahre an der Macht erst zum Autokraten machten. Wie groß seine Macht über die Wähler tatsächlich ist, das wird die Wahl am Sonntag zeigen.