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Befreiende Selbstironie

Von Elisabeth Freundlinger

Reflexionen
Diana Köhle, Tagebuch-Slam-Organisatorin, in Aktion.
© Anna Konrath

Von New York aus führte der Trend des "Diary Slam" auch nach Österreich. Nicht nur im Wiener TAG organisiert Diana Köhle heitere Tagebuchabende.


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In der Volksschule fängt es meistens an. Man kriegt von irgendwem ein kleines Büchlein geschenkt. Es hat einen hübschen Einband und lauter leere Seiten. Was soll man damit bloß anfangen? - Schreib einfach auf, was du so erlebt hast, rät die Mama. Na gut. Auch wenn man keine Ahnung hat, wie das funktioniert. Auch wenn sich das anfühlt wie eine zusätzliche Hausaufgabe, eine lästige noch dazu. Und damit hat sich’s für die meisten auch schon wieder.

"Großtante Traud ist gestorben.
Es war ein schöner Tag."

(18. 7. 1995, Katharina, 10 Jahre)

Aber jetzt kommt die Pubertät, und da ist dieses Problem. Mein ewiges Problem. Ich muss darüber reden, unbedingt, doch die Freundinnen können es schon nicht mehr hören. Außerdem kapiert eh keiner was. Und erst meine Familie!

"Mum: Sie versteht mich einfach nicht.
Dad: Er redet immer so komisch zur Zeit.
Mein Bruder:Der spielt sich auf, als wäre er mein Vater!
Cornelia: Ist sowieso eine blöde Sau."

(17. 5. 1995, Sylvia, 13 Jahre)

Alles ist scheiße. Ich drehe mich im Kreis. Ich führe Selbstgespräche. Aber nur eines hilft: Wenn ich es niederschreibe. Dann ist der Schmerz aufs Papier gebannt, ich kann die Wörter anschauen, darüber nachdenken. Und irgendwann werde ich das Ganze wieder lesen - und das Problem gelöst haben. Hoffentlich. Im besten Fall kann ich dann darüber lachen. Und im allerbesten Fall finde ich mich Jahre später auf einer Bühne und ernte für die verbalen Ergüsse von anno dazumal einen kräftigen Applaus.

Spott ist ein No-Go

Angefangen hat es im April 2005 in einer Bar in Brooklyn. Unter dem Titel Cringe Night (Cringe = schämen) ging das erste Tagebuch-Wettlesen über die Bühne, wurde fortan zur monatlichen Konstante. Drei Jahre später "rutschte" das Thema über den Atlantik nach London, wo es seitdem zum fixen Event eines Pubs in The Strand wurde. 2011 gab es schließlich den ersten von zahlreichen Diary Slams in deutscher Sprache. Vorreiterinnen waren die Autorinnen Ella Carina Werner und Nadine Wedel, die den Tagebuch Slam in Hamburg Altona etablierten. Was zu Beginn nur das Herantasten an eine neue Kunstform war - Publikum wie Akteure schlüpfen bewusst in die Rollen von Exhibitionisten und Voyeuren -, war nicht mehr aufzuhalten. Weil der Schwerpunkt nicht auf dem Fremdschämen liegt, sondern in der Erkenntnis, dass wir doch alle irgendwo gleich ticken, egal, wie cool wir dereinst waren, hat sich das Konzept bewährt.

Selbst wenn man beim ersten Besuch noch skeptisch ist, stellt man fest, dass gemeinsames Lachen verbindet. Vor allem, wenn man nicht übereinander, sondern miteinander lacht. Spott ist deplatziert und ein No-Go.

In Österreich ist es dem Engagement der Tirolerin Diana Köhle zu verdanken, dass die Abrechnung mit dem alten Ich schmerzlos vonstattengeht. Diana Köhle ist familiär vorbelastet: Bruder Markus Köhle und Schwägerin Mieze Medusa haben sich als Rapper, Autoren und Veranstalter von Poetry-Slams etabliert. Auch die "kleine Schwester" wuchs in diesem Umfeld heran und schuf schließlich ihr eigenes Ding: Köhle hat nicht nur ein eigenes Format des Wettbewerbs entwickelt, sie setzt sich auch selbst auf die Bühne und trägt ihre Jugendsünden vor. Indem sie vormacht, wie befreiend Selbstironie ist, öffnet sie die Weichen für andere.

Kein Schummeln

"Wenn ich mich eine Stunde vor der Veranstaltung mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zusammensetze, spüre ich, ob es da eine Bühnenangst gibt oder im Gegenteil das Bedürfnis, sich zu produzieren. Da kriegt man mit der Zeit ein gutes G’spür für die Menschen. Mir ist es wichtig, dass sich meine Teilnehmer wohlfühlen. Ich will sie ja auf keinen Fall vorführen!" Und so drückt die 39-Jährige ihnen beim Soundcheck schon mal ihr eigenes Tagebuch zum Vorlesen in die Hand.

Tagebuch Slam - wie funktioniert das also? Am wichtigsten für Publikum und Veranstalterin ist die Abwechslung. Deshalb werden bei jeder Vorstellung neue Teilnehmer rekrutiert. Und nicht nur dort: "Inzwischen quatsche ich die Leute überall an", sagt Köhle, "vor der Kloschlange, auf der Tanzfläche. Und es klappt!"

Der Pool an möglichen Vorleserinnen und Vorlesern ist groß und noch lange nicht erschöpft. Im Publikum hebt immer noch ein Dreiviertel der Anwesenden die Hand, wenn Köhle fragt, wer heute zum ersten Mal dabei ist. Und das in einem bis auf den letzten Platz gefüllten Theater.

Vier Teilnehmer sind es pro Abend. Sie bringen ihre alten Tagebücher mit und entscheiden selbst, welche Passagen sie vorlesen werden. Erlaubt ist es, die Textstellen vorher abzutippen, um das Entziffern zu erleichtern. Köhle vertraut darauf, dass nicht geschummelt wird. "Es ist ein Spiel", sagt sie. "Schummler würden sich selbst disqualifizieren. Das Publikum ist nicht blöd."

Es wird ausgelost, wer gegen wen antritt, und das Lesen beginnt. Fünf Minuten hat jeder, Köhle schreibt mit und amüsiert sich dabei genauso wie das Publikum. Manchmal werden die Lesenden so vom Lachen gebeutelt, dass sie kurz pausieren müssen.

"Please don’t judge, aber ich musste ein Bauernopfer finden,
dass sich meiner Jungfräulichkeit annimmt und mich derer
entledigt. Ich meine siebzehn und immer noch nicht durchge-
vögelt?! Meine Oma hatte da mals schon ein Kind samt Haus
und Schnitzelklopfer."

(2. 7. 2010, Tanja, 17 Jahre)

Das Publikum entscheidet mit Applaus, nach einer Pause treten die beiden "Sieger" wie auch das verbleibende Paar gegeneinander an. Gekürt wird nur der erste Platz, Verlierer gibt es nicht. Ein bisschen erinnern die Regeln auch an die von Pädagogen ausgeklügelten Spiele unserer Kindheit. Der Sieger bekommt eine "Taschengeld-Erhöhung" in Form von (Bücher-)Gutscheinen im Wert von - umgerechnet - 1000 Schilling (auf die Retro-Währung legt Köhle wert!), alle kriegen neue Tagebücher und Goodies. Aber wie steht es damit, dass jemand allzu Privates preisgibt, oder gar menschenverachtenden Mist?

Diana Köhle: "Das ist bis jetzt noch nicht passiert. Wirklich unangenehm war es nur bei einem Poetry Slam, den ich einmal moderiert habe. Da hat der spätere Frontman der Band Wanda - damals noch unbekannt - das Publikum beschimpft, mit Gegenständen herumgeworfen, sich nackt ausgezogen und mich attackiert. Das ging mir dann zu weit, ich hab ihn von der Bühne entfernt. Leider habe ich ihm seine Kleider nachgeschmissen, da konnte er sich dann feige verdrücken. Nachher weiterzumachen, war für mich nicht so einfach."

Viel Arbeit

Tja, so wird man zum Profi. Harte Arbeit ist es aber sowieso immer, einen Slam auf die Bühne zu bringen. Die flockige Moderation ist nur das äußerlich Sichtbare. Auch die schlicht gehaltene Bühnendekoration ist in Wirklichkeit ausgeklügelt: ein gemütlicher Lehnstuhl mit Stehlampe und Nachtkastl, einmal war es auch schon ein Bett auf Rollen. Wo man halt so schreibt . . .

Und was folgt wohl als Nächstes: WhatsApp-Dialoge? Facebook-Chats? Oder, weil die vergangene Banalität gerade so "in" ist, ein langweiliger Dia-Abend mit verwackelten Urlaubsfotos?

Diana Köhle zuckt lachend mit den Achseln: "I waß nit", fällt sie ins Tirolerische. "Das Thema Tagebuch Slam ist noch lange nicht erschöpft. Ich plane noch mehr Auftritte in den Bundesländern - bis jetzt zieht das Format vor allem in Wien und Innsbruck. Ich möchte aber unbedingt auch nach Graz und Linz. Und dann vielleicht mal ein Bundesland-Battle. Mit den Hamburgern haben wir uns ja schon gematcht, das war eine super Erfahrung. Da ist noch viel drin!"

Auch viel Arbeit: Diana Köhle kümmert sich gleichermaßen um das Sponsoring, die Veranstaltungstermine wie um die persönliche Betreuung von Teilnehmern und Publikum. Noch viel mehr als beim Poetry Slam zählt in diesem Format die Mischung aus Respekt und Ironie. Noch ist der Altersdurchschnitt des Publikums etwa zwischen 25 bis 30, aber die Zuhörerschaft wächst und wird älter. Wie auch diejenigen, die sich auf die Bühne trauen. Waren es anfangs vor allem jüngere Frauen, die mit ihren Tagebüchern im Lehnstuhl Platz genommen haben, sind inzwischen Geschlechter und Generationen gemischt.

Vor allem Letzteres sorgt für Spannung, da das Ausplaudern von Intimitäten für die Prä-So-
cial-Media-Generation die Überwindung größerer Hemmschwellen erfordert. Insofern sind deren Geständnisse auch mehr zu bewundern als jene der ohnehin durchsichtigen Facebooker. Über die Verschiebung von Schamgrenzen wurden schon soziologische Bücher verfasst - hier kann man alles praxisnah beobachten.

"Heute hatte ich meinen ersten Samenerguss! Glaub ich wenigs-
tens. Ich habe mir ein Foto von Nadja Tiller angesehen.
Sie trägt auf diesem Foto so was Schwarzes, das ist
irgendwie ein BH mit einem Badeanzug unten dran, oder so."

(13. 5. 1960, Lenz, 12 Jahre)

Bisher gab es in Österreich 102 Tagebuch Slams, davon 54 in den Bundesländern, 48 in Wien, mit 337 unterschiedlichen Teilnehmern. In Wien stationiert Diana Köhle mit dem Slam im TAG in der Gumpendorferstraße, in Innsbruck regelmäßig im Treibhaus.

Im Dezember 2017 veröffentlichte Köhle das Buch "Wir haben nämlich beide eine Zahnspange, aber er nur oben" - das Beste aus vier Jahren Tagebuch Slam im Wiener Verlag Holzbaum.

Weitere Infos und Termine:
www.liebestagebuch.at