Die ehemalige Rebellenhochburg Slowjansk wurde vor vier Monaten von der ukrainischen Armee befreit. Am Sonntag, dem 2. November, wird im separatistischen Gebiet gewählt. Die Vorbehalte gegen Kiew sind noch immer groß. Eine Reportage.
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Slowjansk. Wenn Denis erzählt, wird der Terror wieder lebendig. Drei Matratzen türmten sich in der Ecke des Zimmers. Der lange Schreibtisch war quer über die Fensterfront gelegt, um das kleine Kabinett zu verdunkeln. Überall Spuren der Sandsäcke, von den Barrikaden, dem Dreck. Am Boden Handtücher, mit zerfetzten Klebestreifen. "Am Anfang wusste ich nicht genau, was das sein soll", erzählt Denis, "dann habe ich mir die Handtücher genauer angesehen: Da waren Abdrücke von Gesichtern, von Speichel und Schmutz."
Es lässt sich nur erahnen, was in Denis’ Kabinett in seiner Abwesenheit, in der Zeit vom 12. April bis 5. Juli, vor sich ging. Mindestens drei Menschen wurden hier gefangen genommen und gefoltert. Denis arbeitet in der Stadtverwaltung von Slowjansk - jener Stadt, die für fast drei Monate die Festung der pro-russischen Separatisten war. Als Männer mit Maschinengewehren und Tarnanzügen die Stadtverwaltung stürmten, blieb Denis zu Hause. Später floh er aus der Stadt. Als im Sommer die Befreiung Slowjansks gemeldet wurde, knallten im Flüchtlingsheim die Sektkorken. "Das war wie ein zweiter Geburtstag für mich!", strahlt Denis.
Im zugigen fünfstöckigen Gebäude wurden die Büros wieder bezogen, die Schreibtische an ihren Platz gestellt, die Sandsäcke weggeschafft. Die Lenin-Statue vor dem Gebäude trägt jetzt einen blau-gelben Schal. "Slowjansk gehört zur Ukraine!", flimmert der Bildschirmhintergrund auf Denis’ Computer. "Slawa Ukraini - Ruhm der Ukraine!", begrüßt Denis seine Gäste mit einem breiten Grinsen.
Doch so patriotisch-feierlich ist längst nicht jedem in Slowjansk zumute. Der Schrecken sitzt noch in jeder Ritze, in jedem Blick, an jeder Ecke. Wenn Sascha, ein Soldat Mitte zwanzig, mit der ukrainischen Uniform durch die Stadt patrouilliert, erntet er feindselige Blicke: "Sehen Sie, wie die Leute uns ansehen? Sie hassen uns." An einer Schnapstheke kippen die Soldaten ein paar Wodka. "Was soll ich mit den Wahlen zur Werchowna Rada? Das ist nicht mein Parlament", murrt der dicke, glatzköpfige Kellner mit einer Zigarette im Mund. "Aber wir sind doch in der Ukraine - nicht?", antwortet Sascha gelassen. Als die Soldaten gehen, ruft der Kellner ihnen nach: "Warte nur! Wir sehen uns bald wieder - in der Donezker Volksrepublik!" Der Kellner lacht.
Prügel für Kinder pro-ukrainischer Eltern
Wie viele in Slowjansk noch heute mit den Separatisten sympathisieren, ist unklar. "Früher haben viele die Donezker Volksrepublik unterstützt - vielleicht 40 Prozent", sagt der neu ernannte Bürgermeister Oleg Santow zur "Wiener Zeitung". "Seit sie aber gesehen haben, was das angerichtet hat, sehen sie das nüchterner." Heute würde nur noch jeder Fünfte dem Traum eines vereinten "Neurusslands" nachhängen, schätzt Santow. Aleksej ist da weniger optimistisch. Als sich die Lage in Slowjansk zuspitzte, ist er mit seiner Frau und seinen vier Kindern geflohen. Im August kehrte er wieder nach Slowjansk zurück. "Mein Sohn wird in der Schule verprügelt, weil die anderen Kinder wissen, dass er aus einer pro-ukrainischen Familie kommt", sagt Aleksej. Vor kurzem läutete in der Schulklasse ein Klingelton mit der russischen Nationalhymne. Als Zeichen des Respekts hätten sich alle Schulkinder erhoben - nur Aleksejs Sohn und ein anderes Mädchen blieben sitzen. "In der Klasse sind mehr als 30 Schüler - dann können Sie sich ja ausrechnen, wie viele Haushalte die Separatisten noch unterstützen", sagt Aleksej. So richtig wohl fühlt sich Aleksej in Slowjansk nicht. "Aber wir haben vier Kinder und kein Geld. Wo sollen wir hin?"
Slowjansk hat wie kaum eine andere Stadt unter dem Krieg in der Ostukraine gelitten. In der heißen Phase des Krieges war die Stadt wochenlang ohne Strom und ohne Wasser. 2500 Häuser wurden offiziellen Angaben zufolge beschädigt - von zerborstenen Fenstern bis zur völligen Zerstörung. Im Juni wurde ein vierstöckiger Plattenbau von Raketenwerfern getroffen. Wie viele Menschen dabei gestorben sind, ist bis heute nicht geklärt. Die Einschläge zerfetzten die gesamte Vorderseite des Wohnhauses, nur die hintere Wand steht noch. Im letzten Stock stehen Blumentöpfe auf einem Fenstersims, als hätte sie erst gestern jemand gegossen.
Natalja ist der Schrecken noch ins Gesicht geschrieben. Vier Granaten haben Erdlöcher in den Spielplatz vor dem Kinderheim gegraben, die Granatsplitter haben sogar die Fliesen und die Wände im Heim durchlöchert. Die 60 Kinder wurden noch rechtzeitig evakuiert, aber Natalja hat im Keller ausgeharrt - tagelang, bis die Waffen endlich schwiegen. Von den Erschütterungen brummt ihr noch heute der Kopf, sie musste in ärztliche Behandlung. Auf den Schrecken folgte die Wut: "Warum hilft uns der Staat nicht?" Sie deutet auf eine Seitenfront des Heimes, die völlig zerstört ist. "Das ist im Juli passiert, und nichts ist seither geschehen! Auf dem Amt sagen sie uns immer: Wir brauchen das Geld für den Krieg!"
Für die zivilen Opfer machen sich die ukrainische Armee und die pro-russischen Separatisten gegenseitig verantwortlich. Klare Beweise, wer das Heim beschossen hat, gibt es nicht. In Slowjansk glaubt jeder, was er glauben will: Typisch "Faschisten", also die ukrainische Armee, sagen die einen. Das machen die "Terroristen", die pro-russischen Separatisten, um die Schuld der ukrainischen Armee in die Schuhe zu schieben, die anderen. Dass vier Monate nach dem Ende des Krieges aber noch immer viele Bewohner auf ihren Trümmern sitzen, schürt das Misstrauen gegen Kiew. Hilfsorganisationen und Freiwillige hätten beim Wiederaufbau geholfen - der Staat nicht, klagen die Bewohner.
Der Krieg hat tiefe Gräben zwischen die Menschen geschlagen. Zwar seien wieder fast alle von den rund 60.000 Flüchtlingen nach Slowjansk zurückgekehrt, sagt Bürgermeister Santow, aus Russland oder aus der Ukraine. In der Bewertung, was passiert ist, leben sie allerdings in verschiedenen Welten. Die Stadtverwaltung hat Info-Broschüren gedruckt, die bald auf der Straße verteilt werden sollen: "Die Ukraine liebt ihren Donbass, der Donbass liebt seine Ukraine." Für die Schule wurden Comics gestaltet, um zu erklären, was die Anti-Terror-Operation der ukrainischen Armee denn eigentlich sei. In den Hauptrollen: ein hinterlistiger Putin und eine beherzte Kämpferin der ukrainischen Armee.
Nur 27,6 Prozent haben bei den Parlamentswahlen gewählt
Die jüngsten Parlamentswahlen können allerdings nicht als glänzendes Beispiel für den neu erwachten ukrainischen Patriotismus herhalten. Nur 27,6 Prozent der Slowjansker haben am vergangenen Sonntag gewählt. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hatte zuvor noch die Nachbarstadt Kramatorsk besucht - als Bekenntnis zu den befreiten Gebieten. "Was ist denn das für ein Käse, so eine niedrige Wahlbeteiligung?", empört sich Denis auf Facebook. "Die Soldaten sterben hier an der Front für den Donbass. Da ist es doch das Mindeste, zur Wahl zu gehen!"
Nachts, wenn Slowjansk schläft, durchschneiden noch Schüsse die Stille. Partisanen, die die ukrainischen Checkpoints angreifen, sagen die Einheimischen. Die Schüsse sind dumpf und fern, wie die Hoffnung auf Frieden.
Wissen
Die von den Separatisten geplanten Wahlen in den ostukrainischen Regionen Donezk und Lugansk am 2. November stoßen international auf Kritik. Die Abstimmung werde das Friedensabkommen vom September untergraben, so UN-Generalsekretär Ban Ki-moon.
Durch die Wahlen wäre die Abspaltung der östlichen Regionen von der Ukraine wieder ein Stück vorangetrieben.
Die ukrainischen Parlamentswahlen sowie die Präsidentschaftswahlen, aus denen Petro Poroschenko als Sieger hervor-
gegangen war, werden von den Rebellen nicht anerkannt.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow meinte, der Kreml hoffe, "dass die Wahlen wie vorgesehen stattfinden". Man werde die Ergebnisse "selbstverständlich" anerkennen. Er hoffe, "dass die Willensäußerung des Volkes frei verläuft und niemand versuchen wird, sie von außen zu stören".
US-Außenminister John Kerry bezeichnete die Wahlen als "klaren Bruch" der Minsker Friedens-Vereinbarungen. Diese sehen neben einer Waffenruhe und dem Rückzug der Truppen von der Frontlinie erweiterte Selbstbestimmungsrechte für Lugansk und Donezk vor. Das ukrainische Parlament hat ein Gesetz in diesem Sinne verabschiedet, doch beharren die Separatisten auf voller Selbständigkeit. Die Bürger, die sich zurzeit nicht in Donezk aufhalten, konnten seit Mittwoch im Internet wählen.
Der Regierungschef der "Volksrepublik Donezk", Alexander Sachartschenko, meinte laut der russischen Nachrichtenagentur Interfax, er bereite sich auf Gefechte vor und führe zugleich Wahlkampf. "Faktisch gab es keine Waffenruhe. Die Angriffe auf unsere Städte gehen weiter", so Sachartschenko. In der Tat sind zuletzt bei Kämpfen laut Angaben aus Kiew sieben ukrainische Soldaten getötet worden. Es war der höchste Verlust für die ukrainische Armee an einem Tag seit mehr als zwei Wochen.