Die Gymnaestrada ist ein sportliches Großereignis ohne Ranglisten, ohne Rekorde und ohne Verlierer. Hier wird gemeinsam statt gegeneinander geturnt. Statt mit einer Siegermedaille im Gepäck fahren die Teilnehmer mit unvergesslichen Erinnerungen und neuen Freundschaften zurück in ihre Heimat.
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Die Gymnaestrada in Vorarlberg ist Geschichte. Eine Woche lang "belagerten" 22.000 Turnbegeisterte aus allen fünf Kontinenten das "Ländle". Vom 8. bis 14. Juli wurde in Vorarlberg getanzt, geturnt und gefeiert. Fern von Konkurrenzdenken und Wertungsdruck zeigten die Teilnehmer turnsportliche Höchstleistungen. Auch wenn die Schulen, die den Turnern und Turnerinnen aus aller Herren Länder als Unterkunft dienten, nun leer sind und wieder Ruhe ins beschauliche Alltagsleben der Vorarlberger eingekehrt ist, wird sowohl den Einheimischen als auch den Teilnehmern die Veranstaltung noch lange in Erinnerung bleiben. Aber worin liegt die Faszination einer Sportveranstaltung, die gänzlich ohne Bewertung auskommt, und warum sind so viele Menschen davon angetan?
Alt und Jung. Die Schweiz gilt traditionell als das Land der Turner schlechthin. Immerhin hat der Schweizer Turnverband rund 450.000 Mitglieder. Eines von ihnen ist Dorothee Siefert aus Basel. Sie turnt seit 40 Jahren. Für die Schweizerin war der gesundheitliche Aspekt ausschlaggebend, um dem örtlichen Turnverein beizutreten. Schließlich ist sie Kneipp-Gesundheitsberaterin und weiß, wie gut Bewegung für den Körper ist: "Bewegung ist eine der fünf Säulen von Kneipp." Dass Turnen fit und auch jung hält, kann ihre Turnerkollegin Ilse Meyer nur bestätigen: Mit ihren 71 Jahren ist sie bereits zum dritten Mal in Folge bei einer Gymnaestrada mit dabei und denkt noch lange nicht ans Aufhören. "Turnen ist nicht nur gut für die Gesundheit, sondern auch für die Kameradschaft." Aber nicht nur innerhalb des Vereins werden Freundschaften geknüpft, bei Großevents wie bei der Gymnaestrada besteht die Möglichkeit, viele Gleichgesinnte aus den verschiedensten Ländern zu treffen. "Wir Turner und Turnerinnen sind wie eine große Familie. Wenn man nicht dieselbe Sprache spricht, verständigt man sich einfach mit Händen und Füßen ", erzählt Ilse Meyer. "Alles läuft friedlich ab, obwohl so viele Menschen auf einem Haufen sind", ergänzt Dorothee Siefert. Auch für Freni Huber, die seit knapp 50 Jahren turnt, ist Turnen etwas ganz Besonderes: "Wenn ich einmal eine Woche nicht zum Training kann, fehlt mir etwas." Dass der Turnsport für alle Generationen geeignet ist, zeigt sich nicht nur im Altersdurchschnitt der Gymnaestrada-Teilnehmer, der bei 33 Jahren lag, auch die Schweizer Turnerinnen sind überzeugt, dass Gymnastik Generationen verbindet: "Wir haben sogar eine Frau, die über 90 Jahre alt ist, bei uns im Verein und es gibt viele, deren Kinder und sogar Enkelkinder mitturnen".
Zum 1. Mal im Ausland. Diesem Aspekt kann auch Morimoto Mieko aus Japan einiges abgewinnen. "Bei uns beginnen viele bereits im Kindergarten mit dem Turnen. Aber auch in meinem Alter kann man noch sehr gut mitmachen", schmunzelt die 69-Jährige. Sie kam erst mit etwa 35 Jahren zum Turnsport, war allerdings sofort davon überzeugt, dass es das Richtige für sie ist. "Bei einer Vorführung habe ich gesehen, wie die Kinder das Herz bei diesem Sport haben. Das hat mich berührt, jetzt bin ich selber ein Fan vom Turnen, denn es macht mir Freude. Dass es gut für die Gesundheit ist, das ist ein positiver Nebeneffekt. Außerdem kann ich durch den Sport meine Kultur vorstellen und gleichzeitig andere Kulturen kennen lernen", erzählt Morimoto. Andere Länder zu bereisen, das ist auch für die Gruppe aus Brasilien etwas ganz Besonderes. Die Gymnaestrada in Vorarlberg ist für die meisten von ihnen der erste Auslandsaufenthalt. "Es ist sehr, sehr teuer für uns. Wir mussten sehr viele Aufführungen machen und haben dort um Spenden gebeten, damit wir uns die Teilnahme finanzieren konnten. Ich habe drei Jahre für die Gymnaestrada gespart. Einige von uns haben ihre Autos verkauft, um das Geld zusammen zu bekommen", berichtet die 25-jährige Paula Magoni. Aber auch abseits von Großveranstaltungen leben die Mitglieder der brasilianischen Truppe für diesen Sport: "Es ist eine Möglichkeit, meine Gefühle auszudrücken. Speziell dann, wenn kein Wettbewerb besteht", erzählt Paula Magoni.
Männer sind Mangelware. Auch in Kanada hat Gymnastik einen großen Stellenwert. Die Zwillinge Kerstin und Christina Koop und deren Freundin Katriina Isberg haben bereits mit vier Jahren mit dem Turnen begonnen. "Das Gefühl, auf der Bühne zu stehen, ist einfach toll", erklärt die 16-jährige Kerstin. Die drei Mädchen waren zum ersten Mal bei einer Gymnaestrada mit dabei und haben sehr viele Eindrücke gesammelt: "Fast jedes Land hat einen eigenen Stil. Die einen Performances sind enthusiastisch und explosiv, die anderen eher ruhig und anmutig." Auch wenn die jungen Turnerinnen von ihrem Sport total begeistert sind, eines würden sie sich doch noch wünschen: Mehr Männer! "Wir könnten viel mehr Burschen brauchen, denn dann könnten wir mehr Hebefiguren machen. Die Männer denken allerdings, dass das nur ein Sport für Frauen ist", bedauert Katriina. Einer, der nicht so denkt, ist der Deutsche Bruno Drücker. "Viele Männer wollen lieber Eishockey oder Fußball spielen, das kann ich gar nicht verstehen. Mir gefällt die Fröhlichkeit bei diesem Sport. Es gibt keinen Wettkampf, dadurch steht das Vergnügen im Vordergrund. Trotz Schlechtwetter sind alle gut drauf. Und auch Behinderte leben in dieser Sportart auf", so der Gymnaestrada-Teilnehmer aus Friesland.
Ein Land, in dem die Integration von Menschen mit einem Handicap in die Gymnastikgruppen eine lange Tradition hat, ist Großbritannien. "Die Mitglieder unseres Vereins blühen auf, wenn sie vor Publikum auftreten. Es tut ihnen sehr gut, denn sie tanken Selbstbewusstsein", erzählt eine Trainerin. Die 26-jährige Britin Michelle Karina kann dem nur zustimmen: "Ich liebe es, auf der Bühne zu stehen, und ich liebe es, Applaus zu bekommen!"