Das Hochgebirge gilt in vielen Kulturen als erhabene, metaphysische Zone. Doch schon früh reizte es des Menschen Forscher- und Tatendrang. - Eine kurze Kulturgeschichte des Alpinismus.
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Von allem Anbeginn steigt der Mensch in die Berge, und es tut sich Außergewöhnliches dort, um ihn herum und in ihm drinnen. Diesen Anbeginn kennen wir aus der Heiligen Schrift, wo nicht nur Moses auf dem Berg Sinai (2285 m) von Gott die Zehn Gebote in Gestalt steinerner Tafeln erhält, sondern noch weit früher Noah, nach Abflauen der Sintflut, auf dem Berge Ararat (5137 m) strandet oder landet, wie man will. Im Koran ist an dieser Stelle von einem Berg namens Kardu oder Dschudi die Rede, den man heute mit dem "bloß" 2114 m hohen Cudi Dagi in der Türkei identifiziert. Das hätte für des Menschen leicht hysterisierbare kollektive Psyche den Vorteil, dass man sich ein weltbedrohendes kataklysmisches Ereignis, wie es die Sintflut gewesen sein müsste, als "bloß" 2000 m hohe Flutwelle vorzustellen hätte. Für den Großteil der bewohnbaren Welt bedeutete dies allerdings gleichermaßen das Aus.
Der Sitz der Götter
Wie dem auch sei, in großer Höhe ist die Begegnung mit dem Numinosen gewissermaßen garantiert; und dieses Grundmotiv durchzieht die Geschichte des Alpinismus bis in die neueste Zeit. Die griechischen Götter residieren auf einem hohen Berg, dem Olymp (2918 m), auf den folgerichtig sehr spät in der Geschichte, nämlich 1913, erstmals ein Mensch den Fuß setzte.
Auch die allerhöchste unter unseren Erdenwarzen, der Mount Everest (8848 m) weist offenbar althergebrachte Verbindungen mit der dortigen Form des Göttlichen auf: Er heißt auf Nepali "Stirn des Himmels" und auf Tibetisch "Mutter des Universums". Mit der anderen üblichen Benennung nach dem englischen Landvermesser des 19. Jahrhunderts wird die immerwährende Zwiespältigkeit des menschlichen Unterfangens auch am höchsten der Gipfel sichtbar. Neben dem, der da erschauert vor dem, was uns immer und immer wieder wenigstens um eine Schuhnummer zu groß ist, steht - zumindest in der Neuzeit - einer mit dem Maßband, der sich schon ans Vermessen macht, während Ersterer noch in Anbetung verharrt.
Üblicherweise wird gesagt, der Mensch habe einst im Allgemeinen das Gebirge verabscheut als wüste, ungastliche und irgendwie unordentliche Angelegenheit; und diese Auffassung sei erst im Zuge der romantischen Naturbegeisterung um 1800 grundsätzlich revidiert worden. Mir scheint dies aber lediglich die Gegenbewegung zu dem etwas übertrieben aufgeklärt sein wollenden 18. Jahrhundert gewesen zu sein: zu zahlreich sind die Zeugnisse aus früheren Zeiten, wo davon die Rede ist, wie Neugier und Tatendrang - Universalien der Menschheitsgeschichte - "uns" schon weit früher, nämlich eben seit Moses, spätestens, ins Gebirg getrieben haben. Als Beispiele aus der Renaissance seien nur die im "Theuerdank" beschriebenen alpinen Abenteuerurlaube des Kaisers Maximilian erwähnt oder Leonardo da Vinci, der am Monte Rosa so hoch emporstieg, dass er die Wolken von oben anschauen - und zeichnen konnte.
In diesem Zusammenhang ist es üblich, auf Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux (1912 m) im April 1336 und seinen Bericht darüber einzugehen. Zwar hat die berühmteste Bergfahrt der Geistesgeschichte möglicherweise gar nicht stattgefunden; Petrarca ließ sich von der Bibel, Augustinus und antiken Autoren inspirieren und meinte das Ganze wesentlich im übertragenen Sinn.
Doch irgendein Hügelchen wird er jedenfalls erklommen haben, und Familiarum Rerum Libri IV, 1 wurde zum Gründungsdokument des modernen Bergerlebens: "Zuerst stand ich, durch den ungewohnten Hauch der Luft und die ganz freie Rundsicht bewegt, einem Betäubten gleich da. Ich schaue zurück nach unten: Wolken lagen zu meinen Füßen, und schon wurden mir der Athos und der Olymp weniger sagenhaft."
Eine Grenzerfahrung
Der erste richtige Kletterer, von dem wir wissen, war der Innsbrucker Johann Georg Ernstinger. Er berichtet in seinem Raisbuch über einige Gipfel, die er erstiegen hat, darunter "Ain sehr hohes gebürg und das höchst, so darumb ist, ain lauter Felsen, sich in der Höh etwa zuespizent und auf der seiten sich naigt, als ob er in das thal fallen wolt, welches schröckhlicher tiefen". Es dürfte sich um die Frau Hitt handeln, den sagenumwobenen, von Innsbruck aus gut sichtbaren Felsturm in der Nordkette. "Nit ohne große gefahr und müe, weil gar sorgklich und zwarsamb dahin zu staigen, also daß sich etlich zu todt darob gefallen haben."
Schon hier deutet sich an, was im 21. Jahrhundert vollendet wird: der Berg ist Sportgerät. An ihm, mit seiner Hilfe kann der Mensch jene körperlich-seelische Grenzerfahrung in idealer Weise machen, ohne die er sein Erdenleben anscheinend nicht aushalten kann. 200 Jahre später ereignet sich der oben angesprochene Paradigmenwechsel. Die Natur als das Eigentliche, das Wilde und Göttliche wird dem Menschen begehrenswert. Das ist das eine, unter "Romantik" subsumiert; das andere ist das Fortleben der mitnichten überwundenen Aufklärung im positivistischen Naturwissenschafter des 19. Jahrhunderts. Der eine will erleben, erschauern, der andere erfahren, erforschen - und nicht selten wohnen die zwei Seelen in einer Brust.
So beginnt die Erschließung der Alpen auf breiter Basis, nämlich der Basis der sich rasch entwickelnden modernen bürgerlichen Gesellschaft. Die Ersten sind die Engländer, die zunächst in der Schweiz, dann allenthalben anfangen, die eisigen und felsigen Gipfel zu erstürmen; und in wachsender Zahl folgen ihnen die Bewohner des übrigen Europa. Der herrschende Geist der Zeit bildet sich im Alpinismus ab - wie sollte es anders sein? "The Playground of Europe" - so nannte Sir Leslie Stephen sein Buch zum Thema; der Titel wurde zum Slogan. Wie auch sonst standen die Engländer beim Bergsteigen für einen von Ironie und Understatement geprägten Zugang zur Sache.
Hierzulande sah man es teils etwas verbissener. "Rase der Sturm mit zehnfacher Gewalt, ich schleudere ihm frevelmutig meine gellenden Jauchzer entgegen! Im Kampf mit den entfesselten Gewalten bin ich der Stärkere - und bin allein!" So einer der Erschließer der Nördlichen Kalkalpen, Hermann von Barth, dem sogar das Bergsteigen bald zu langweilig wurde, weswegen er dann auf der Suche nach mehr Adrenalin nach Zentralafrika ging, am Tropenfieber erkrankte und sich eine Kugel in den Kopf jagte.
Die feine englische Art verkörpert hingegen Joseph Kyselak, der in seinen "Skizzen einer Fußreise durch Österreich" (1829) eine knifflige Situation in der Überschreitung aus dem Ötz- ins Stubaital so beschreibt:
"Mit Händen und Füßen konnten wir uns ziemlich sicher an den Kanten der Kalkwand hinaufhelfen; plötzlich aber trennte ein ungemein tiefer und acht Schuh breiter Felsenriß unsere acht bis sechzehn Zoll breite Grundfläche, auf der wir zur Rechten fortwährend die glatte Felsenwand, links den bodenlosen Abgrund sahen, und so, in schiefer Richtung uns emporarbeiteten. Es befiel mich eine wahre Höllenangst, denn rückzukehren schien mir so gewiß Tod bringend, als der mißlungene Sprung, und den zauderte Lehner [Kyselaks Führer] zu wagen. [. . .] Es war die erste Tat, die ich ihm anloben konnte, als er nach einem Schluck Branntwein, samt dem kleinen Bündel mit Mundvorrat, kühn hinübersetzte. Ich war nicht im Stande mit meinem schweren Gepäcke ihm gleich zu folgen. Die Jagdtasche flog zuerst, und dann warf ich mein Gewehr nach, dessen Schloß zwei umwundene Tücher schützten. Ich reihte mich an die Vorläufer, und mein Duna [der Hund] machte den Beschluß, ungrübelnd, warum er nach solcher Strapaze noch springen müsse."
Wiewohl das Gebirge, ob man es nur anschaut oder auch besteigt, das Erhabenheitsmodell schlechthin darstellt, bildet die pathetische Variante nur einen beschränkten Teil davon. Seit der Entstehung der industriellen Gesellschaft mit ihren gestiegenen Einkommen, neuen Freizeitregelungen, dem massenhaft organisierten Reisen und der zunehmenden Entfernung der städtischen Lebenswelt von der "Natur" (wonach selbige als Erlebnisraum an und für sich erst entstehen konnte, mit den Kontroversen um Definition, Benützung und Schutz, mit denen wir uns heute herumschlagen) etablierte der Berg sich als Ort von "Schrecken und Faszination".
Wenn wir (wie auch die ersten Touristen) im europäischen Umfeld bleiben, so hebt ihn seine individuelle und leicht dramatisierbare Gestalt über die anderen vom Menschen ungeformten und im Grunde unformbaren Landschaften hinaus. Dazu kommt seine - im Vergleich zu den Sand- und Eiswüsten - leichte Erreichbarkeit. Er ist in all seiner Hochfahrendheit überschaubar, handhabbar, in einem modernen Konsumwort "leistbar".
Thomas Mann hat in seinem großen Roman, der das Wort Berg schon im Titel trägt, die Sache auf seine unnachahmliche Weise auf den Punkt gebracht. "Nein, diese Welt in ihrem bodenlosen Schweigen hatte nichts Wirtliches, sie empfing den Besucher auf eigene Rechnung und Gefahr [. . .] Gefühle des still Elementaren, des nicht einmal Feindseligen, vielmehr des Gleichgültig-Tödlichen waren es, die von ihr ausgingen. Das Kind der Zivilisation, fern und fremd der wilden Natur von Hause aus, ist ihrer Größe viel zugänglicher als ihr rauher Sohn, der, von Kindesbeinen auf sie angewiesen, in nüchterner Vertraulichkeit mit ihr lebt."
Ästhetischer Genuss
Doch nicht nur Worte berichten uns aus den Bergen, da sind, parallel dazu, die vielen, vielen Bilder, die die Geschichte des Alpinismus begleiten und die hier skizzierte geistige Entwicklung illustrieren. Dass sie zum ästhetischen Genuss erheblichen Erkenntnisgewinn bringen können, davon zeugt ein jüngst erschienenes Buch. Der Volkskundler Martin Scharfe hat in dem Band "Bilder aus den Alpen. Eine andere Geschichte des Bergsteigens" (Böhlau Verlag, Wien-Köln-Weimar 2013, 216 Seiten) 66 Bilder aus den Beständen des Münchner und des Innsbrucker Alpenvereinsmuseums ausgewählt und einer genaueren Betrachtung unterzogen.
Scharfe erweist sich als feinsinniger, gebildeter und aufmerksamer Beobachter und Formulierer; hier wird die Kunst der Bildbeschreibung zum Vergnügen, und das auch oft skurrile Detail wird für den großen Zusammenhang bedeutsam:
"Noch Anfang der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts - anlässlich der offiziellen Erstersteigung des Venedigers - wunderte man sich, dass die mageren Männer (die man für schwächlich hielt) den Gipfel relativ problemlos erreichten, während ,die schwersten Körper‘ (die man gesund und stark glaubte) bald zurückfielen und am schnellsten ,unterlagen‘ - was man sich damit erklärte, dass sie auch am tiefsten in den Schnee einsanken."
Walter Klier, geboren 1955, Schriftsteller und Maler, lebt in Innsbruck. 2012 wurde er mit dem Otto-Grünmandl-Literaturpreis für sein Gesamtwerk ausgezeichnet.