Der Soziologe Kenan Güngör erklärt, welchen Einfluss Ankaras Diasporapolitik auf das aktuelle Verhalten der in Europa lebenden türkischstämmigen Migranten hat.
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Wien. Nach dem versuchten Putsch in der Türkei ist die Stimmung auch in der heimischen türkischen Community angespannt. Am Wochenende waren Hunderte Menschen in österreichischen Städten auf der Straße. Der Soziologe Kenan Güngör analysiert im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" die Hintergründe.
Wiener Zeitung:Am Samstag haben türkischstämmige Wiener auf der Mariahilfer Straße demonstriert. Dabei kam es zu Ausschreitungen vor einem kurdischen Lokal. Vielen hat das sauer aufgestoßen, sie wollten wissen, wieso tragen diese Leute ihren Konflikt hier aus?Kenan Güngör: Das Demonstrationsrecht ist ein Grundrecht, egal ob wir die ideologischen Inhalte teile oder nicht. Das gehört zu einem liberalen Rechtsstaat und muss toleriert werden. Punkt. Dürfen sie randalieren? Nein das dürfen sie nicht. Dürfen sie die Demonstration ausnutzen, um gegen andere Volkstruppen zu hetzen, wie das auf der Mariahilfer Straße passiert ist? Nein, das hat hier keinen Platz. Das ist Volksverhetzung und sollte strafrechtlich belangt werden.
Wie spiegelt sich der Konflikt in der Türkei in der Community in
Österreich wider?
Grundsätzlich gilt: Je dramatischer und polarisierter die Konflikte in den Ursprungsländer werden, desto stärker schlägt sich das in der Diaspora nieder und desto eher findet eine Resolidarisierung und Reethnisierung statt. Das ist überall zu beobachten.
Wird diese Entwicklung bewusst gesteuert aus dem Heimatland?
Zum Teil. Früher waren die türkischen Migranten uninteressant für Ankara. Man hat sie bestenfalls als Melkkühe gesehen, die Devisen bringen. Mehr nicht. Mit der AKP-Regierung hat sich das seit 2002 geändert. Sie ist die erste türkische Regierung, die eine aktive Diasporapolitik betreibt. Man hat sogar ein Ministerium für Auslandstürken eingerichtet. In der Anfangsphase war das noch positiv konnotiert. Man wollte Brücken bauen zwischen der neuen und der alten Heimat. Man hat gesagt: Ihr seid unsere Visitenkarte. Je bessere eure Performance im Ausland ist, umso besser ist das für das allgemeine Standing der Türkei, auch im Hinblick auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union.
Was hat sich verändert?
Die AKP. Sie hat sich gewandelt vom Paulus zum Saulus, in dem sie all ihre liberalen Prinzipien und Personen über Bord geworfen hat. Die Regierung ähnelt nun viel mehr diesem ehemaligen autoritären türkischen Staat, den sie ursprünglich bekämpft hat. Nur macht sie das mit islamistisch populistischen Vorzeichen.
Welchen Einfluss hat das auf ihre Diaspora-Politik?
Nachdem den Auslandstürken vor ein paar Jahren das Wahlrecht eingeräumt wurde, ist ihr Wert für ihr Herkunftsland gestiegen, weil sie nun Stimmen bringen. Damit kommt die türkische Innenpolitik viel stärker nach Europa. Alle türkischen Parteien betreiben in Europa intensiv Wahlkampf. Das führt zu einer massiven Irritation und hat einen negativen Effekt in der Diaspora. Die Parteien tragen nämlich die Polarisierung der türkischen Gesellschaft hinein in die Communitys im Ausland. So werden innertürkische Konflikte auch stärker hierzulande spürbar, siehe etwa die Zusammenstöße zwischen Kurden und Türken bei Demonstrationen in den vergangenen Wochen.
Sieht diese Diasporapolitik bewusst vor, dass sich die Leute im Ausland nicht integrieren?
Die Logik funktioniert so: Je besser ihr im Ausland performt, desto mehr Einfluss haben wir. Doch ihr sollt euch mit der Türkei identifizieren und ihr gegenüber loyal sein. Das soll heißen: Strukturell solltet ihr integriert, aber emotional solltet ihr der Türkei verbunden bleiben.
Diese These ist ein Geschenk für jeden Rechtspopulisten, dervon einer fünften Kolonne fantasiert, die auf Ankaras Zuruf in Österreich handelt.
Das ist eine überspitzte Übertreibung. Es gibt die Diasporapolitik und den gestiegenen Einfluss, der durchaus problematisch ist, aber man soll die Kirche doch bitte im Dorf lassen. Es sind ein paar Hundert Menschen vor dem Hintergrund eines Staatsstreiches auf die Straße gegangen und nicht die gesamte türkische Community.
Welche Strukturen in Österreich unterstützen die türkische Diasporapolitik?
Es gibt verschiedene Institutionen, Vereine und Moscheen wie die ATIB (Anm.Türkisch-islamische Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich). Sie ist eine der wichtigsten religiösen Kerninstitutionen der Türkei in Österreich. Wenn etwas in der Türkei passiert, bekommen sie über ihre Strukturen - seien das Vereine oder Moscheen - die Leute schon zusammen. Da muss es noch nicht einmal einen Anruf aus Ankara geben, die machen das in Eigenregie. Neu ist, dass sich die Strukturen erweitert haben, weil sich neue politische Allianzen gebildet haben.
Inwiefern?
Früher waren die Trennlinien schärfer, zwischen den konservativen, islamistischen und ultranationalistischen Kräften. Heute mobilisieren sie gemeinsam für eine Sache, weil sich die AKP sowohl an die Fundamentalisten - wie die Milli Görus - als auch die Ultranationalisten - wie die MHP - angenähert hat. Dadurch ist der Einflussbereich größer geworden. Sie erreichen nun mehr Leute, auch in der Diaspora. Plötzlich stehen ihnen mehr Strukturen zur Verfügung, mit denen sie die Menschen nicht nur emotional stärker an das Herkunftsland binden, sondern sie auch immer wieder mobilisieren können.
Wie viele Menschen lassen sich über solche Strukturen mobilisieren?
Man muss zwischen Sympathisierenden und Mobilisierbaren unterscheiden. Etwa 30 Prozent der Türkeistämmigen haben Bezug zu Vereinen oder Moscheen, und davon dürfte ein gewisser Anteil mobilisierbar sein.
Und die anderen?
Die müssen nicht organisiert sein. Man darf diese Menschen jetzt auch nicht diabolisieren. Es gibt viele glühende Erdoganfans, die ihn als Retter der Türkei sehen. Sie sagen, dass er das Land nach vorne gebracht und dem Glauben das richtige Gewicht gegeben hat. Außerdem betrachten sie es als seinen Verdienst, dass die Türkei nicht länger als ein unterentwickeltes Land wahrgenommen wird. Erdogans Image der Stärke und der Macht wird auf einen Selbst übertragen. Sie projizieren Erdogans Erfolg auf sich selbst. Es findet damit eine indirekte Selbstaufwertung statt.
Nach dieser Aufwertung sehnen sie sich besonders im Ausland?
In Österreich gibt es in der Wahrnehmung gegenüber Ausländern eine klare Rangordnung. Lange standen die Türken ganz unten. Sie tun es bis heute. Mit den Tschetschenen, Syrern und Afghanen hat sich das Gleichgewicht temporär verschoben, aber im Grund genommen hat sich an dieser Rangordnung nichts verändert.
Das heißt: Der Misserfolg der österreichische Integrationspolitik bereitet den Boden für den Erfolg der türkischen Diasporapolitik?
Das wäre zu kurz gegriffen. Natürlich gibt es Benachteiligung der türkischstämmigen Mitbürger, aber das wird oft innerhalb der Community als Vorwand genutzt, um Missstände nicht zu thematisieren. Mit der Islamophobie ist das ähnlich. Wir haben eine große Islamfeindlichkeit in der Gesellschaft, aber das führt dazu, dass man das als Legitimation nimmt, um sich selbstverherrlichend als Opfer darstellen zu können. So bleibt aber jedes selbstkritische Hinterfragen aus.
Zur Person
Kenan
Güngör
Soziologe mit türkisch-kurdischen Wurzeln. Sein Büro "Think Difference" behandelt Fragen der Integration und Diversität.