Konsequenz eines "Systemversagens" war der Erdrutschsieg der gemäßigt-islamischen AKP bei den türkischen Parlamentswahlen vom 3. November für den Sicherheits- und Außenpolitikexperten Hüseyin Bagci. Er prophezeit im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" der AKP eine lange Regierungszeit und rechnet mit der baldigen Aufhebung des Mandatsverbots für AKP-Chef Tayyip Erdogan. Zwar müsse die Türkei "taktisch und strategisch" bei Europa sein, doch werde man sich in Sicherheitsfragen weiterhin an die USA anlehnen.
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Die Türkei erlebe nun ein Experiment, so Bagci, der Internationale Beziehungen in Ankara lehrt und am Mittwoch auf Einladung des "Büros für Sicherheitspolitik" in Wien weilte. Die Zeit der alten Politikergarde sei unwiderruflich vorbei, die neue verfüge noch kaum über politische Erfahrungen, um die größte Wirtschaftskrise in der Geschichte der Türkei zu bewältigen. Das eindeutige Votum - die ehemaligen Regierungsparteien verfehlten den Wiedereinzug in das Parlament, in dem die AKP nun die absolute Mehrheit hält - als Folge eines "Systemversagens" der Alt-Parteien.
Beginn einer langen AKP-Vormachtstellung
Mit diesem Wahlsieg, glaubt Bagci, habe die AKP die Grundlage für eine langfristige politische Vormachtstellung gelegt. Da die notwendige völlige Neuausrichtung der abgewählten Alt-Parteien Zeit verlange, werde die AKP die 2004 stattfindenden Kommunalwahlen gewinnen. Und auch für die spätestens 2007 anstehenden Parlamentswahlen rechnet der Türkei-Experte mit einem Sieg der AKP - sofern dieser keine gravierenden Fehler unterlaufen, der etwa der Armee Anlass zum Einschreiten geben könnte. Allerdings werde die Armee "nicht nach Gründen für ein solches Einschreiten suchen", ist Bagci überzeugt.
Gül "Premier mit Ablaufdatum"
Den Anfang dieser Woche präsentierten Ministerpräsidenten Abdullah Gül betrachtet Bagci als "Premier mit Ablaufdatum". Er rechnet mit einer baldigen Aufhebung des Urteils, das AKP-Chef Erdogan untersagt, Abgeordneter im Parlament zu sein. Aber auch ohne formales Mandat werde Erdogan der "starke Mann" in der türkischen Innenpolitik der kommenden Jahre sein.
EU-Werte und US-Sicherheitspolitik?
"Taktisch und strategisch" müsse die Türkei mit Europa sein, ist Bagci überzeugt, obwohl er gleichzeitig keinen Zweifel daran ließ, dass sein Land sicherheitspolitisch an der Seite der USA bleiben werde. Man werde "von der EU die Werte und von den USA die Sicherheitspolitik" übernehmen, lautet sein pragmatischer Zugang. So auch seine Antwort auf den Fall eines Neins der EU zu den Beitrittsambitionen der Türkei: In diesem Fall "werden wir auch weiterhin einfach da sein".
Statt Außen- macht EU Erweiterungspolitik
Zweifel hegt der Leiter des "Büros für Sicherheitspolitik", Erich Reiter, ob die EU die Türkei mit offenen Armen empfangen werde. Die EU habe seit jeher statt einer strategisch orientierten Außen- einfach eine Erweiterungspolitik verfolgt. Dieses Konzept stoße nun im Falle der Türkei an die Grenzen seiner praktischen Umsetzbarkeit, ist Reiter überzeugt.