Ist Kritik aus Prinzip zulässig? Oder gilt nicht auch hier eine Ethik der Verantwortung?
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Statt der Aussicht auf Erleichterung kommen weitere Verschärfungen der Maßnahmen gegen Covid-19: Künftig ist beim Einkaufen eine Schutzmaske zu tragen. Gleichzeitig warnte Kanzler Sebastian Kurz vor Verharmlosern, von denen es - auch unter Experten - noch zu viele gebe.
Das ist eine ungewöhnliche Warnung aus dem Mund eines Kanzlers. In der Politik gilt gemeinhin die öffentlich ausgetragene Suche nach dem besten Weg. Allerdings leben wir gerade nicht in normalen Zeiten. Wir erleben jetzt, was Regieren bedeutet, wenn es um Fragen von Leben und Tod geht.
Verschärft wird diese existenzielle Situation noch durch die allgegenwärtige Unsicherheit: Eine Gesellschaft wie die unsrige war noch nie mit einer Herausforderung wie Covid-19 konfrontiert. Das schließt die Gewissheit ein, dass Fehler im Krisenmanagement gemacht werden. Wenn Fehler aber sicher sind, dann ist es einigermaßen ungewöhnlich, Kritik oder das Aufzeigen alternativer - gemeint sind hier weniger radikale - Handlungsoptionen als "Verharmlosung" zu bezeichnen.
Natürlich kann das nur ein Wunsch, eine Bitte oder Aufforderung der Bundesregierung an die Öffentlichkeit sein (und wünschen kann sich die Politik bekanntlich viel). Normalerweise würde man das unter der Rubrik "Netter Versuch" ablegen. Aber gilt das auch, wenn es tatsächlich um Menschenleben geht?
Eine solche Debatte ist dann nicht nur ein Mittel zum Zweck, den bestmöglichen Weg zu ermitteln; jede öffentliche Diskussion schwächt selbstverständlich auch den von der Regierung verordneten Maßnahmenkatalog, weil dieser eben dann nur noch als ein möglicher, noch dazu als unnötig einschneidender Weg zum Ziel dasteht.
Das wird bewirken, dass die Disziplin der Menschen, sich an die verordneten Maßnahmen zu halten, nicht wirklich steigt, sondern eher abnimmt. Doch was, wenn die Regierung und die Experten, auf die sie hört, recht haben? Dann wird die Zahl der Todesopfer weit über das schon jetzt unvermeidliche Ausmaß ansteigen. So gesehen müssten wir darüber reden, wie viele Tote jede Seite für tragbar hält, was die je andere - nicht zu Unrecht - als polemisch zurückweisen würde.
Klar ist: Jede Regierung bleibt für das verantwortlich, was sie tut und was sie unterlässt - egal, was irgendwelche Kritiker fordern. Es gibt aber auch kein Gesetz, das kritische Geister dazu zwingt, auf einem richtigen Prinzip zu beharren, wenn der drohende Schaden um ein Vielfaches größer ist als der unmittelbare Nutzen, quasi eine Weber’sche Verantwortungsethik für Kritiker. Für Auf- und Abrechnungen ist genug Zeit, wenn die Gefahr abgewendet ist.