Russland wendet sich nach Osten. Die Entwicklung des Fernen Ostens hat für Wladimir Putin Priorität, gleichzeitig richtet er seine Politik und wirtschaftliche Zusammenarbeit stärker auf die asiatischen Nachbarn aus.
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Wladiwostok. Lidia Bekenowa hat sich vorbereitet auf Russlands Zukunft. Im kommenden Jahr wird sie ihr Chinesisch-Studium in Wladiwostok abschließen, danach möchte sie einen Master in China machen, am liebsten in Shanghai. Die 21-Jährige mit den langen schwarzen Haaren und den dunklen Augen will später einen Job in der Wirtschaft finden, in einem Unternehmen, das grenzüberschreitend tätig ist. "Russland orientiert sich nach Asien", sagt sie, "das ist kein Geheimnis."
Seit Präsident Wladimir Putin vor knapp drei Jahren in den Kreml zurückgekehrt ist, genießt der Ferne Osten Russlands erhöhte Aufmerksamkeit. Milliardenbeträge sollen in die Entwicklung der strukturschwachen Region fließen, für Putin ist dies eine "nationale Priorität". Darüber hinaus betrachtet der Präsident die Asien-Pazifik-Region als Wiege einer neuen Weltordnung. Seit Ausbruch der Ukraine-Krise richtet Moskau seine Politik immer stärker nach den Nachbarn im Osten aus. Wladiwostok, einst als östlicher Vorposten imperialer Expansion gegründet, dient heute als Tor nach Asien. Der Name der Stadt, "beherrsche den Osten", ist noch immer aktuell.
Bereits mit dem asiatisch-pazifischen Wirtschaftsgipfel Apec im Herbst 2012 wollte Putin für das Potenzial der Region um Wladiwostok, Primorje, werben. Mehr als 16 Milliarden Euro flossen in ein neues Kongresszentrum, den Flughafen, Hotels und weitere Infrastruktur. Viele Investitionen kommen noch heute aus dem Staatshaushalt, doch künftig soll mehr Geld aus dem Ausland, vor allem aus China, Korea und Japan, in den Fernen Osten und nach Wladiwostok gelangen.
Die Hafenstadt am Japanischen Meer ist Russlands wichtigste Metropole im Osten des Riesenlandes. Europa, die Ukraine und die Krim sind hier fern, aber Asien ist ganz nah. 9288 Kilometer ist die letzte Station der Transsibirischen Eisenbahnstrecke von Moskau entfernt. Fast eine ganze Woche braucht der Zug durch die russischen Weiten. Selbst der Flug dauert mehr als acht Stunden. Nach Tokio oder Seoul sind es hingegen nur knapp zwei Flugtunden . Seit einem Jahr etwa gibt es eine Zugverbindung nach Nordkorea. Am nächsten aber ist die lange Grenze zu China.
"Speerspitze der neuen Politik"
Als "Speerspitze der neuen russischen Politik" bezeichnet Wladimir Mikluschewskij seine Region, als "Durchbruch nach Osten". Der Gouverneur von Primorje spricht gerne von den vielzähligen Investitionsvorhaben in seinem Verwaltungsgebiet. Was mit dem Apec-Gipfel begann, will er auch in Zukunft weiterführen. 2015 sieht er dabei als "Schlüsseljahr für neue Projekte".
Russlands Wirtschaftskrise könnte da kaum ungelegener kommen: Sie bremst die hohen Erwartungen. Wie im ganzen Land stagniert die Wirtschaft auch in Primorje. Das Wachstum in der Region ist heuer gesunken, in den ersten drei Quartalen lag es nur noch bei 0,8 Prozent - Tendenz fallend.
Lidia, die Studentin, sitzt in einem Café im Stadtzentrum. Schon in der Schule hat sie Chinesisch gelernt, damals hatte sie noch kein all zu großes Interesse am Nachbarland gehabt, erinnert sich die 21-Jährige, inzwischen aber habe sie Feuer gefangen, kann sich sogar vorstellen, ein paar Jahre in China zu leben, erzählt sie, schließlich sei das Nachbarland eine wichtige Wirtschaftsnation. Enge Verbindungen zwischen Russland und Asien gab es schon früher. Auf der anderen Straßenseite des Cafés lebten vor vielen Jahrzehnten viele Chinesen und Koreaner. Sie kamen nach der Stadtgründung im Jahr 1860 nach Wladiwostok, als Händler, Handwerker und Hilfsarbeiter. "Millionka", hieß das Chinatown Wladiwostoks, weil dort so viele Menschen auf engem Raum zusammenlebten. Die Spuren von damals sind heute nur noch vereinzelt zu finden, zu erkennen an den verwinkelten Hinterhöfen. Asiens Einfluss auf Wladiwostok ist nicht sehr groß.
Nur wenig Einfluss Asiens
Ein wenig außerhalb des Zentrums, gleich hinter dem Hafen, gibt es zwar den Sportiwnaja-Markt, auf dem Händler aus China so ziemlich alles verkaufen, was man im Alltag braucht. Kunden laufen über knarrende Holzbalken, die Auslagen sind notdürftig mit blauen Plastikplanen vor Schnee geschützt. Aus kleinen Imbissbuden duftet es nach Koriander. In der Stadt beschränkt sich Asiens Einfluss sonst auf die Automarken, meist Importe aus Japan, das Lenkrad auf der rechten Seite.
Einige Touristen aus den chinesischen Städten hinter der Grenze haben sich nicht abschrecken lassen vom eisigen Wind, der vom Ozean heranzieht und ihnen ins Gesicht schneidet. Wladiwostok ist vor allem ein russisch-europäischer Ort. Goldene Zwiebeltürme prägen das Stadtbild, ebenso wie Krieger- und Lenin-Statuen. Die Architektur stammt meist aus Zaren- und Sowjetzeit, am Stadtrand wachsen Plattenbauten in den Himmel, triste Klötze, wie in jeder anderen russischen Stadt.
Der einstige Außenposten des russischen Zarenreiches war zu Sowjetzeiten ein geschlossener Militärstützpunkt, abgeschottet vom Rest des Landes, den selbst Russen nur mit Sondergenehmigung betreten durften. Heute gibt sich die Stadt mit ihren gut 600.000 Einwohnern sympathisch, offen, nach vorne strebend. Die meisten Bürger sind stolz auf ihre Heimat, auf die hübsche Lage am Meer, auf die Buchten sowie die hügelige Landschaft, die von der Küste aufzieht und Wladiwostok einen besonderen Charakter verleiht. Die Bewohner nennen den Fernen Osten, den "neuen Reichtums Russlands" und freuen sich über die Aufmerksamkeit, die Moskau der Region schenkt. Im politischen Kurs nach Osten sehen sie keine Abkehr von Europa, sie sagen stattdessen: "Wir haben Europa und Asien im Blut."
Große Pläne, viele Ideen
Auch Gouverneur Wladimir Mikluschewskij will trotz aller Konzentration auf Asien den Westen nicht aus dem Blick verlieren. "Die Zusammenarbeit mit Europa soll keinen Schaden nehmen", erklärt der Politiker. Aber das Zentrum der wirtschaftlichen Entwicklung verlagere sich nach Asien, so der 47-Jährige, davon wolle auch Russland profitieren.
Besucher lädt Mikluschewskij in seine marmorverzierte Residenz und spricht dort über "große Pläne" und "gute Möglichkeiten" in Primorje. Zu den wichtigsten Investitionen zählt bisher ein Autowerk, in dem die Arbeiter eines Joint Ventures japanische und koreanische Modelle bauen. Eine Werft für U-Boote, Tanker und Containerschiffe entsteht, ebenso wie eine spezielle Glücksspielzone an der Küste, ein großes Sägewerk im Norden der Region, neue Straßen- und Zugverbindungen sind geplant. Der Erdölkonzern Rosenft will neue Raffinerien bauen, der Hafen wird bald Freihafen sein. Investitionen sollen künftig in die Landwirtschaft fließen, ebenso wie in die Textilwirtschaft, den Fischfang, Forstwirtschaft, Tourismus und in die Rohstoffindustrie. Ideen gibt es viele.
Von Krise und Sanktionen sei in seiner Region kaum etwas zu spüren, verkündet Mikluschewskij. Sorgen seien zwar vorhanden, aber "eine Panik gibt es bei uns ganz bestimmt nicht", meint der Gouverneur. Wirtschaftliche Probleme könnten doch immer vorkommen und sollten "vernünftig und pragmatisch" gelöst werden, redet er Probleme klein.
Dass sich die großen Erwartungen an den Apec-Gipfel bisher nicht erfüllt haben, dass selbst Hotels für die Konferenz nicht fertig gebaut wurden, sagt er nicht. So positiv, wie der Gouverneur seine Provinz beschreibt, wollen sie die Einwohner, trotz allem Stolz, sie kaum sehen. Stattdessen erzählen sie, wie die Krise ihren Alltag erreicht hat: Die für die russische Provinz ohnehin hohen Lebenshaltungskosten sind in den vergangenen Wochen deutlich gestiegen, während sich die Menschen um den sinkenden Wert ihrer Löhne sorgen. Viele suchen neue Jobs, bessere Bezahlung und mehr Wohlstand in Moskau oder Sankt Petersburg. In Wladiwostok sind zahlreiche Baukräne zu sehen, viele davon stehen jedoch still. "Wieso sollte jetzt ein Investor kommen und diese Projekte beenden?", fragt sich ein Geschäftsmann aus dem Westen.
Das große Abwarten
"Jeder wartet ab, wie es weitergeht", erklärt Natalja Prisekina. Interesse von Investoren sei zwar vorhanden, sagt sie, aber viele Firmen verzögerten ihre Vorhaben. Die 45-Jährige ist Anwältin bei einer internationalen Kanzlei, außerdem ist sie die Vorsitzende von Viba, dem lokalen Verband für ausländische Unternehmer. Schon die erhoffte Investitionsflut nach dem Apec-Gipfel sei leider ausgeblieben, sagt sie. Jetzt, mit Stagnation und Rubelschwäche, befinde man sich zusätzlich "in einer schwierigen Zeit".
Das ist auch auf dem Campus der Fernöstlichen Föderalen Universität zu spüren. Dort, wo 2012 die Apec-Teilnehmer tagten, lernen heute Studenten. Von den neuen Gebäuden am Ufer der Russkij-Insel können die Studenten sehen, wie Tanker und Containerschiffe langsam in den Hafen einlaufen. Spektakulär ist auch der Blick auf die riesige Schrägseilbrücke, die auf die Insel führt. Eine ähnliche Brücke überspannt seit dem Apec-Gipfel das Goldene Horn, die größte Bucht der Stadt. Weiß, blau, rot sind die Stahlstreben angestrichen, Russlands Nationalfarben. Die Brücken sind die neuen Wahrzeichen der Stadt.
In den langen Gängen der Universität verlieren sich die wenigen Studenten. Dass der Campus als Kongresszentrum geplant war, ist leicht zu erkennen. Im Eingangsbereich steht eine Rezeption für Besucher, es gibt Hotels und riesige Konferenzsäle mit großen runden Verhandlungstischen.
Im Morskoj-Saal ist gerade eine Versammlung des russisch-japanischen Rats für Modernisierungsfragen der Wirtschaft zu Ende gegangen. Dessen Ziel ist es, mehr Investitionen in Russlands Fernen Osten zu locken. Beim jüngsten Treffen ging es natürlich um die Krise, Japan hat gemeinsam mit Europa und den USA Sanktionen gegen Russland verhängt. Dies bereitet Wirtschaftsvertretern beider Länder Kopfzerbrechen. Aus Moskau kam sogar Vizepremier Arkadij Dworkowitsch, um mit den japanischen Geschäftsleuten zu beraten. Drei Stunden dauerten die Gespräche, jetzt stehen einige der Teilnehmer im Foyer zwischen breiten Sofaecken aus Kunstleder und schmalen Zimmerpalmen.
"Russen und Japaner verstehen einander sehr gut", doziert ein japanischer Manager in dunklem Nadelstreif, der seinen Namen nicht preisgeben möchte. Politisch seien die Beziehungen zwar kompliziert: historisch wegen des Streits um die Kurilen-Inseln, der seit Ende des Zweiten Weltkrieges anhält, aktuell wegen der Ukraine-Krise. Doch wirtschaftlich wollen beide Seiten enger kooperieren. "Politiker und Geschäftsleute haben eine unterschiedliche Sicht auf Sanktionen und die Ukraine-Krise", erklärt der Geschäftsmann.
Für seine Firma plant er ein Gewächshaus für Gemüse und eine Anlage zur Weiterverarbeitung. Russland biete ausreichend Platz und sei ein attraktiver Markt, auf dem gute Umsätze warten. Von der Politik will sich da niemand die Geschäfte vermiesen lassen.
Manche Vorbehalte bleiben
Investoren aus Japan und Korea sind in Russland schon immer willkommen, weil sie fehlendes Know-How ins Land bringen. Chinesischen Geschäftsleuten waren die Russen lange Zeit weniger zugeneigt. Komplizierte Beziehungen reichen bis weit in die Vergangenheit. In den frühen Jahren der Sowjetunion vertrieben die Russen in Wladiwostok die Chinesen aus dem Stadtviertel "Millionka". Manche Ängste und Vorurteile sind geblieben - dem neuen Ostfokus Moskaus zum Trotz.
So fürchten sich einige in der Stadt vor Überfremdung, sie haben Angst davor, dass eines Tages in Wladiwostok keine Russen mehr leben, sondern nur noch Chinesen, erklärt Lidia. "Die Leute sagen, es kann gefährlich sein, sich zu stark nach China zu richten", erzählt sie. Erst allmählich ändert sich unter Moskaus politischem Kurs die Einstellung. Mehr Menschen verstünden, so Lidia, dass China "ein guter Freund ist, der gebraucht wird".