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Bei Chlorhuhn vergeht Europas Appetit

Von Alexander U. Mathé und Nathaniel Minor

Politik

Die Vereinheitlichung von Vorschriften ist schwierig.


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Brüssel/Washington. Es ist ein monumentaler Wirtschaftsdeal und gleichzeitig ein riesiges Geheimnis: Die beiden größten Volkswirtschaften der Welt, die EU und die USA, planen ein Freihandelsabkommen. Die Freihandelszone wäre mit 800 Millionen Einwohnern so groß wie keine andere auf der Welt. Die Verhandlungen sind am Montag in die zweite Runde gegangen. Doch was im Detail eigentlich verhandelt wird, bleibt unveröffentlicht. Die Spekulationen darüber sowie die allgemeinen Vorgaben lassen die einen von hunderten Milliarden Euro an Wirtschaftswachstum schwärmen, die das Abkommen in Zukunft bringen soll. Andere hingegen warnen: Die Freihandelszone diene nur den Interessen von Großkonzernen und bringe unterm Strich so gut wie nichts an zusätzlicher Wirtschaftsleistung.

"Ein gewisses Maß an Diskretion ist notwendig, um die Interessen der EU zu schützen und die Chancen auf ein befriedigendes Ergebnis zu wahren", argumentiert die EU-Kommission die Tatsache, dass die Verhandlungen und Texte über diese nicht der Öffentlichkeit zugänglich sind. Nur einige allgemein gehaltene Positionspapiere geben die generelle Marschrichtung an. Sie lassen erahnen, was der große Deal beinhalten wird.

In einem sind sich alle Experten einig: In dem Freihandelsabkommen wird es kaum um Freihandel gehen - zumindest nicht im herkömmlichen Sinn. Zollbarrieren existieren nämlich zwischen der EU und den USA fast nicht mehr. Lediglich vier bis sieben Prozent des Handelsvolumens unterliegen noch den Zollbestimmungen.

EU und USA setzen globale Standards

Das große Schlagwort lautet "Regulierungsstandards". Die sind der Kern der Transatlantischen Handels- und Investment-Partnerschaft (TTIP, vom Englischen Transatlantic Trade and Investment Partnership). Dazu gehören unter anderen Industriestandards, Lebensmittelgesetze, aber auch öffentliche Ausschreibungen. Die sollen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden.

Ein simples Beispiel sind Autos, für die es auf beiden Seiten des Atlantiks unterschiedliche Bestimmungen gibt. Blinker in den USA etwa - die auch schon einmal rot sein können - weichen von den europäischen Vorschriften ab. Daher müssen Autokonstrukteure ein und dasselbe Auto zwei Mal konzipieren, obwohl man davon ausgehen kann, dass beide verkehrssicher sind. Und hier liegt für Befürworter des TTIP die große Stärke.

"Wenn du Hindernisse abbaust und Unternehmen es mit nur einer Vorschrift anstatt mit zweien zu tun haben, dann eröffnet das neue Möglichkeiten", sagt Dan Ikenson von der US-Denkfabrik Cato Institute. Das Unterfangen hat eine ungeheure Tragweite, die weit über die EU und die USA hinausgehen dürfte. Jede Einigung auf eine gemeinsame Regelung würde weltweit wegweisend sein. "Auf was auch immer sich die USA und die EU einigen, es wird aufgrund der Größe der beiden Volkswirtschaften in vielen Fällen de facto der globale Standard werden", ist Joshua Meltzer von der Brookings Institution in Washington überzeugt.

Welche Fälle das letztlich im Detail sein werden, ist aufgrund der Geheimhaltung nicht bekannt. Die Fülle ist unüberschaubar, betroffen sein kann alles, das einer Regulierung unterliegt: von der Krümmung einer Gurke, über Derivatenhandel bis hin zu Sicherheitsbestimmungen für Chemikalien. "Niemand kann das alles im Auge behalten", sagt Jacques Pelkmans vom Centre for European Policy Studies (Ceps) in Brüssel. Daher gibt es Arbeitsgruppen. Im Vorfeld der Verhandlungen trafen sich die europäischen Delegierten daher mit einer Reihe von Interessensgruppen.

Wichtig, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, ist für Pelkmans das sogenannte "préjugé favorable", das vorteilhafte Vorurteil. "Man geht davon aus, dass etwas in Ordnung ist, und nicht, dass es nicht in Ordnung ist, weil es aus den USA kommt." Das heißt, etwas, das in den USA als sicher gilt, sollte auch in Europa als sicher gelten. Doch genau das bezweifeln Kritiker.

Großer Stolperstein Landwirtschaft

Grundsätzlich werden den USA und der EU zwei unterschiedliche Herangehensweisen zugeschrieben. In den USA gehe man davon aus, dass etwas sicher ist, solange nicht das Gegenteil bewiesen sei. In der EU hingegen gilt das Vorsichtsprinzip, wonach zuerst bewiesen werden muss, dass etwas sicher ist, bevor es zugelassen wird. Beispielhaft für diesen Konflikt ist einer der umstrittensten Punkte aus europäischer Sicht: GVO, gentechnisch veränderte Organismen (siehe nebenstehenden Artikel).

"Das Thema wird von manchen in Europa mit geradezu religiösem Eifer behandelt", sagt Pelkmans. Das würde die ganzen Verhandlungen gefährden und sogar die EU-Mitgliedstaaten spalten. Es wäre also weise, diesen Punkt aus den Verhandlungen herauszunehmen, um den Rest der Gespräche nicht zu gefährden. Davon ist nicht nur Pelkmans überzeugt, sondern so gut wie jeder Experte, mit dem man über dieses Thema spricht. Wahrscheinlich wird das Thema auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.

Auch Vorbehalte in den USA gegenüber EU

Doch auch ohne GVO bereitet die Landwirtschaft den Verhandlern genügend Kopfzerbrechen. Etwa wenn es um die sogenannten "Chlorhühner" geht. In den USA ist die Praktik verbreitet, Hühnerbrüste mit Chlor zu desinfizieren, um so die Salmonellengefahr einzudämmen. Dass so ein Huhn künftig problemlos in der EU verkauft werden könnte, ist vielen Europäern ein Graus. Das wiederum ist den Amerikanern unverständlich, da es in vielen europäischen Ländern, darunter Frankreich, Usus ist, abgepackten Salat mit Chlorwasser zu reinigen. Auch sei in vielen Städten das Trinkwasser chloriert, was den Ekel vor den Chlorhühnern absurd mache, erklärte ein ranghoher US-Beamter.

Auch auf amerikanischer Seite gibt es Vorbehalte gegenüber Europa. Etwa wenn es um den Jones Act für den Seehandel geht. Das Gesetz sieht vor, dass der Schiffsverkehr zwischen amerikanischen Häfen grundsätzlich nur von Schiffen besorgt wird, die in den USA hergestellt wurden, US-Staatsangehörigen gehören und von US-Bürgern betrieben werden. Die USA werden jedenfalls versuchen, das Regelwerk beizubehalten, erfuhr die "Wiener Zeitung" aus US-Verhandlerkreisen.

Weitere Befürchtung: Dass sich Europa Zugang zu den Erdgas-Reserven der USA verschaffen will. Per Gesetz kann dieses derzeit nicht ohne eine spezielle Lizenz exportiert werden. Die würde die EU nach Abschluss des TTIP nicht mehr benötigen. US-Produzenten - zumal in der Petrochemie - fürchten nun um ihre indirekte Förderung, während man im britischen Energieministerium damit rechnet, dass dadurch die britischen Gaspreise bis 2020 um zwölf Prozent sinken werden.

Umgekehrt fürchtet man Europa, dass sich amerikanische Firmen in Europa, zumal Osteuropa, die Rechte für Erdgasressourcen sichern und dort das umstrittene Fracking betreiben.

Sorgen macht man sich auch in einzelnen US-Bundesstaaten. Denn im Gegensatz zu Freihandelsabkommen mit etwa den karibischen Staaten, oder mit Peru, gibt es für sie keine Möglichkeit, sich dem TTIP zu entziehen.

Angst vor Liberalisierung des Wassers

Manche Kritiker in Europa sehen in dem Abkommen die europäische Lebensweise gefährdet. Die USA hätten lediglich zwei von acht Konventionen für arbeitsrechtliche Mindeststandards der Internationalen Arbeitsorganisation ratifiziert, berichtet die globalisierungskritische Organisation Attac. Im Hintergrund könnten somit arbeitsrechtliche Standards in Europa ausgehöhlt werden. Die Europäische Kommission möchte Klagerechte für Investitionssicherheit verhandeln, erklärt Alexandra Strickner von Attac. Diese Klagerechte würden es Investoren ermöglichen, Staaten aufgrund von Sozial-, Gesundheits- oder Umweltschutzgesetzen zu klagen, die ihre geplanten Gewinne bedrohen. Auf Basis so eines Abkommen hat etwa der schwedische Energiekonzern Vattenfall Deutschland wegen des Atomausstiegs erfolgreich geklagt.

Attac glaubt, dass die Kommission auch öffentliche Dienstleistungen in die Verhandlungen aufnimmt. US-Unternehmen könnten eine Deregulierung fordern, wo ihnen der ungehinderte Zugang zu den europäischen Märkten fehlt. So fürchten Kritiker, dass über den Umweg TTIP eine zwangweise Liberalisierung und Privatisierung des Wassers erfolgen könnte. Dabei hatte erst kürzlich die erste erfolgreiche EU-Bürgerinitiative bewirkt, dass die Trinkwasserversorgung von der EU-Konzessionsrichtlinie ausgenommen wird.

Uneinigkeit über Höhe des Nutzens

Eine große Unbekannte und großer Streitpunkt ist letztlich, was dieses Freihandelsabkommen bringen wird. "Dies ist das billigste Ankurbelungsprogramm, das man sich vorstellen kann", lobt EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso das TTIP. Die Kommission rechnet mit einem Nutzen für die EU in Höhe von jährlich 119 Milliarden Euro und für die USA mit 95 Milliarden Euro pro Jahr.

Dabei beruft sie sich auf einen Bericht des Centre for Economic Policy Research in London, das eine Analyse unter Leitung des US-Ökonomen Joseph Francois in Auftrag gegeben hat (siehe untenstehendes Interview). Die generelle Einschätzung von Experten ist, dass das Freihandelsabkommen im allerbesten Fall ein Wachstum in Höhe von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr bringe.

Für Kritiker ist diese Zahl überzogen. Dean Baker vom fast gleichnamigen Center for Economic Policy Research in den USA verweist darauf, dass mit diesen Milliardenbeträgen nur im besten aller Fälle zu rechnen sei, es sich um eine Projektion bis zum Jahr 2027 handle und die angegebenen Euro-Beträge auch den für das Jahr 2027 angenommenen Wert haben. Die Berechnungen für die weniger ambitionierte Variante kämen auf einen zu vernachlässigbaren Schub in Höhe von jährlich 0,015 Prozent des BNP.

Anfang kommenden Jahres sollen erste Vorschläge für die politisch Verantwortlichen vorliegen. Dass das TTIP Realität wird, damit rechnet so gut wie jeder. Fraglich bleibt lediglich wann. Während es Brüssel und Washington am liebsten noch 2014 besiegeln würden, glauben nur wenige Analysten, dass dies zeitlich schaffbar ist. Das wird letztlich von der Klärung der zweiten essenziellen Frage abhängen: Was wird das Freihandelsabkommen in der Endfassung beinhalten?