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Bei den leisen Rebellen

Von Solmaz Khorsand

Reflexionen

Minsks Intelligenzia übt sich in Vogel-Strauß Taktik, während Präsident Lukaschenko Angst um seine Macht hat.


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Auf den ersten Blick hat in der weißrussischen Hauptstadt Minsk alles seine Ordnung, Unzufriedenheit mit der Regierung oder gar Widerstand zeigen sich nicht.
© Khorsand

Diesen Abend leistet sich Dmitri einen Luxus. Er nimmt sich frei von der Diktatur. Einen Abend lang wird der Anwalt nicht über seine Klienten und Kollegen sprechen. Über die Verschleppten, die Verprügelten und die Eingesperrten. Er wird Ausländern nicht seine Heimat erklären. Und ihre empathischen Blicke ertragen. Für einen Abend will der 30-Jährige nur mit seinen Freunden ein Bier trinken und so tun, als ob alles normal wäre. "Es ist doch alles normal, sieh dich um", sagt er und zeigt auf die pastellfarbenen kleinen Häuser der Minsker Altstadt.

Pragmatische Apathie

Schön ist es. Verwinkelte Straßen mit Bars und Cafés voller junger Menschen, die ihren Feierabend bei einem Bier und einer Portion Kartoffelpuffer - dem Nationalgericht - ausklingen lassen. "Wir wissen selbst, dass wir in einer Diktatur leben, wir müssen nicht permanent darauf aufmerksam gemacht werden", sagt Dmitri gereizt und streicht sich über die Bartstoppeln. Wieder hat er die ganze Nacht gearbeitet. Wieder hatte er keine Zeit, sich zu rasieren. "Freiheit bedeutet hier, sich auch manchmal aus dem Ganzen ausklinken zu können." Er lächelt müde. Nur ein paar Stunden will es Dmitri seinen Landsleuten gleich tun - und einer bestimmten Lebenshaltung frönen: Abyjakavasc. Es ist das erste Wort, das der Fremde in der weißrussischen Sprache, die kaum einer in dem Land spricht, lernt. Immer wieder ist es die Antwort auf jede Frage. Warum geht ihr nicht auf die Straße? Warum wehrt ihr euch nicht? Warum organisiert ihr euch nicht? Abyjakavasc. Abyjakavasc. Abyjakavasc. Ein weißrussischer Wesenszug soll es sein. Die einen übersetzen es mit "Toleranz". Die anderen mit "Gleichgültigkeit". Doch alle sind sich einig: Es ist die Lebensmaxime der Weißrussen. Ein apathisches "Que sera, sera", das ihnen über Jahrzehnte das Überleben sicherte. Erst gegen ausländische Invasoren. Und heute gegen die eigene Regierung.

Weißrussland. "Die letzte Diktatur Europas" nannte es 2005 die einstige US-Außenministerin Condoleezza Rice. Seither wird das Land mit seinen knapp zehn Millionen Einwohnern, das zwischen dem Baltikum, Polen, der Ukraine und Russland liegt, nur mehr so umschrieben. Im Juli feiert Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko sein 20-jähriges Jubiläum. Es ist seine vierte Amtszeit. Seinen Maidan hat er schon zweimal überlebt. Einmal 2006, einmal 2010. Mehr als die Ächtung der internationalen Community hatte sie für ihn nicht zur Folge. Einen Hort der Stabilität will der Präsident heute präsentieren. Er will beweisen, dass er - "Batka", Väterchen, wie Lukaschenko genannt werden soll - alles unter Kontrolle hat. Seit dem Konflikt in der Ukraine ist ihm das Image des starken Mannes wichtiger denn je.

Lenin in Adidas

Wer durch das Minsker Zentrum spaziert, könnte ihm fast glauben. Saubere Straßen, eine moderne U-Bahn, gut besuchte Cafés, McDonalds-Filialen, in denen Kinder ihre Geburtstage feiern und volle Kaufhäuser, in denen auch westliche Marken wie Mango, Bodyshop und Adidas längst Einzug gehalten haben. Keiner sitzt auf den akkurat gemähten Wiesenflächen. Keiner geht bei Rot über die Straße. Alles hat seine Ordnung. Der Weißrusse hält sich an die Vorschriften. Freundlich werden Fremde empfangen. Man nimmt sie gar an der Hand und setzt sie persönlich an der gewünschten Adresse ab. Wenn es sein muss gleich im Rudel, weil Ansprechpartner eins, zwei und drei kein Wort Englisch sprechen und erst Ansprechpartner Nummer vier die Gruppe mit ein paar Brocken "left" und "right" in die richtige Richtung lotst.

Alltag in Minsk: "Solange du dich hier nicht politisch engagierst, kannst du ein gutes Leben führen."
© Khorsand

Als Kulisse dient Sowjetkitsch einer vermeintlich vergangenen Ära. Da eine einsame Lenin-Statue vor dem Regierungssitz am Platz der Unabhängigkeit, dort Stalins Zuckerbäckerstilbauten, welche die elf Kilometer lange Lebensader der Stadt - den Boulevard der Unabhängigkeit - säumen. Im Mai fand in Minsk die Eishockey-WM statt. Herausgeputzt hat man sich dafür. Man wollte zeigen, dass Weißrussland nicht das düstere Nordkorea Europas ist, das immer heraufbeschworen wird. Noch Wochen später sind die übergroßen Pappfiguren Eishockey-schwingender Büffel zu sehen. Der Bison ist Weißrusslands Nationaltier - und Eishockey die Lieblingssportart des Präsidenten.

Väterchens Angst

Seit den Schüssen auf dem Kiewer Maidan ist die Zustimmung für Lukaschenko in der Bevölkerung gestiegen. Eine Rolle spielt dabei auch, dass russische Medien in Weißrussland prominent vertreten sind und die russische Sicht auf die Ukraine verbreiten. Doch die Situation in der Ukraine macht Lukaschenko nervös. Sehr nervös. Was, wenn er seinen Staat auch bald los ist, so wie sein Nachbar die Krim?

"Er ist aufgewacht", sagt Yury Khashchavatski, "er beginnt zu verstehen, was Russland wirklich ist." Khashchavetski ist Dokumentarfilmer. Der 67-Jährige gilt als Weißrusslands Antwort auf Michael Moore. Auch wenn ihm der Vergleich nicht gefällt. Entspannt empfängt er seinen Besucher im Pyjama in seiner geräumigen Wohnung gegenüber dem Minsker Hauptbahnhof. Was für Michael Moore jahrelang George W.Bush war, ist für Yury Khashchavatski Alexander Lukaschenko. Spätestens seit seiner Satire "An Ordinary President" (1996) ist er sich des Zorns des Volkstribuns sicher: Als korrupten Tölpel stellt Khashchavatski den Präsidenten dar. Der Film hatte Konsequenzen. Unmittelbar nach seiner Premiere im Ausland schlugen fremde Männer den Regisseur krankenhausreif. Das tat seiner Popularität keinen Abbruch. Im Gegenteil. Seine Dokumentation "Kalinosvki Square" über die Demonstration nach den Wahlen 2006 wurde auch international prämiert.

Der kritische Filmemacher Yury Khashchavatski.
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Khashchavatski kennt die Biografie Lukaschenkos in- und auswendig: Der Diktator ist Ex-Direktor einer Sowchose, der Anfang der Neunziger Jahre als einziger Abgeordneter im weißrussischen Parlament gegen die Unabhängigkeit seiner Heimat gestimmt hatte. Khashchavatski erinnert sich noch gut daran, wie Lukaschenko, unmittelbar nach seiner Wahl zum Präsidenten die Flagge der Weißrussischen Sowjetrepublik (BSSR) wieder einführte. Die weiß-rot-weiße Fahne der Republik ist seither verboten - und gilt als Symbol der Opposition. Auch mit der weißrussischen Sprache konnte er sich nie anfreunden. Zwar ist Weißrussisch neben Russisch offiziell die Amtssprache, doch gesprochen wird fast ausschließlich Russisch. "20 Jahre lang hat er versucht, die belarussische Sprache auszumerzen. Jetzt sagt er, dass er sie fördern und unterstützen will", erzählt Khashchavatski. Er weiß. welchen inneren Kampf der Präsident, der alte Sowjetkader, zurzeit kämpft. "Lukaschenko denkt zum ersten Mal über die nationale Identität seines Landes nach, weil Russland seine Macht bedroht", erklärt Khashchavatski. "Die Gefahr ist sehr schnell für ihn gestiegen, da er Belarus schon längst an Russland verkauft hat."

20 Jahre lang war Lukaschenko Sonnenkönig. Jedoch ein Sonnenkönig von Russlands Gnaden. Das Verhältnis zum russischen Präsidenten Vladimir Putin war seit jeher distanziert. Russland ist der größte Investor, Absatzmarkt und Handelspartner der Republik. Zu Weihnachten hat Russland dem hochverschuldeten Nachbarn eine Finanzspritze in Höhe von 1,5 Milliarden Euro versprochen. Es ist nicht das erste Mal. Sollte Moskau den Hahn abdrehen, ist es vorbei mit Lukaschenkos Ära. Khashchavatski weiß, in welcher Bredouille das Väterchen steckt. "Die Unabhängigkeit von Russland ist die einzige Chance, seine Macht zu bewahren".

Die Oase der Bohème

Khashchavatski spricht offen mit seinem Besucher. Ohne Scheu. Ohne Selbstzensur. In seinem Arbeitszimmer, aber auch in der Öffentlichkeit. So wie viele in seinem Land. Sei es im Park, in Cafés, am Telefon oder online. Dass sie Angst haben vor dem Geheimdienst, dem KGB, der seit Sowjetzeiten so heißt, lassen sich die Weißrussen nicht anmerken. Jene, die sich als Regimekritiker bezeichnen, wissen, dass sie abgehört werden und machen sich einen Spaß daraus. So sehr, dass sie ihre Gespräche am Handy schon mit einem "Hallo mein Schatz und hallo Burschen!" beginnen.

"Manchmal wird man schon paranoid", erzählt Elena, "vor allem, wenn es darum geht, neues Personal einzustellen." Die junge Frau studiert Kunstgeschichte und arbeitet nebenbei in einer Buchhandlung in der Nezalezhnasty Straße 37A, nahe des Siegesplatzes. Das ist mehr als eine Buchhandlung, es ist eine Oase für Weißrusslands Bohème. Die einzige in Minsk. Bis vor einigen Jahren konnte man in dem Gebäude Glasflaschen gegen ein geringes Pfand eintauschen. Heute gibt es hier ein Buchgeschäft, eine Kunstgalerie, eine Bar und einen Designshop. "y" heißt der Gebäudekomplex. Es ist ein weißrussischer Buchstabe, der sich für Sprachunkundige anhört wie "u".

Elena fühlt sich wohl in dieser Blase, auch wenn sie nicht weiß, ob sie nicht bald platzen wird - so wie die anderen Blasen, die quer in der Stadt verteilt waren. Zum Großteil verkauft Elena mit ihren Kollegen weißrussische Literatur und Musik. Auch Bücher, die dem Regime nicht gefallen. Bis vor einem Jahr hatte die Buchhandlung auch ein eigenes Verlagshaus. Das musste schließen, als der Verlag einen Band mit Bildern der World-Press-Foto-Ausstellung veröffentlichen wollte. Zu "extremistisch" waren der Regierung die Bilder. Der Verlag druckt nun aus Litauens Hauptstadt Vilnius - dem Hort der weißrussischen Opposition. Dort befindet sich auch die Europäische Humanitäre Universität, die 2004 in Minsk aus politischen Gründen schließen musste. Die Einrichtung mit Hunderten Studenten gilt als weißrussische Exiluniversität. Doch die Chance, mit einem Abschluss von hier in Weißrussland einen Job zu finden, ist gering.

Batman im Gefängnis

"Solange du dich hier nicht politisch engagierst, kannst du ein gutes Leben führen. Deswegen machen die Leute auch nichts", sagt Olga. Missmutig rührt die 28-jährige Frau in ihrem Cappuccino. Die Informatikerin engagiert sich bei Weißrusslands Grünen. Sie weiß, dass es ihren Landsleuten zu gut geht für eine echte Rebellion. 500 Euro Durchschnittsgehalt, Sozialleistungen, gelegentlich etwas Urlaub und eine gute Infrastruktur - was begehrt das Herz mehr? Olga schnaubt "Das alles ist eine große fette Illusion", sagt sie.

Es ist Sonntag. Am Nachmittag hat sie einen Termin. Vor dem Gefängnis. Es liegt im Südwesten der Stadt, wo sich ein Plattenbau an den nächsten reiht. Es ist 14.30 Uhr. Ihre Freunde warten vor dem Eingang des Gebäudes. Heute wird Sasha entlassen. 20 junge Männer und Frauen sind gekommen - dazu ein Journalistenteam des verbotenen Exilsenders Belsat, der aus Warschau sendet. 15 Tage lang war Sasha verhaftet. Offiziell, weil er Obszönitäten in der Öffentlichkeit von sich gegeben hat. In Wirklichkeit, weil er Essen an Obdachlose verteilt und damit auf einen Missstand in der Gesellschaft hingewiesen hat, sagen seine Freunde.

"Batman" nennen sie Sasha. Weil der junge Maurer gegen das Böse kämpft. Sie alle tragen T-Shirts mit Batman-Aufklebern. Es ist 15.00 Uhr. Immer noch keine Spur von Sasha. Nervös rufen ihn seine Freunde am Handy an. Er hebt nicht ab. Sie befürchten, dass er noch drinnen ist. Oder, dass er irgendwo in der Stadt ausgesetzt wurde. "Das machen sie absichtlich", murmelt Olga, "damit wir ihn nicht empfangen können. Für sie ist unsere kleine Party ja auch ein subversives Happening." Unruhig tigert Olga vor dem Gefängnis herum. Dann der erlösende Anruf. Sasha ist schon längst zu Hause. Und wartet dort auf seine Party.

2015 stehen die nächsten Präsidentschaftswahlen an. Der Sieger steht für viele bereits heute fest. "Es wäre besser, wenn Lukaschenko die Wahlen absagt. Dann werden nicht wieder so viele eingesperrt", sagt Dmitri. Er nimmt einen Schluck von seinem Bier. Draußen wird es langsam dunkel. Die Leute machen sich auf den Heimweg. Dmitri weiß, was Wahlen bedeuten. Sie bedeuten: Hoffnung. Und für den Menschenrechtsanwalt bedeuten sie vor allem Arbeit. Die Präsidentschaftswahlen von 2010 sind noch nicht vergessen. Es ist das Trauma seiner Generation. Damals gingen Tausende auf die Straße und forderten Lukaschenkos Rücktritt. Die Proteste wurden brutal niedergeschlagen. 700 Menschen wurden verhaftet. Seither hält sich die Opposition in Deckung. Ein Großteil der Aktivisten ist emigriert. Der Rest im Gefängnis. Oder in Resignation. So wie Dmitri. Er sieht kaum noch Klienten. Heute sitzt er lieber vor seinem Computer und verarbeitet Daten. Er versucht, Schnittstellen zu finden, gemeinsames Terrain, wo "seine" Leute mit der Regierung zusammenarbeiten können - ohne sich dabei zu verkaufen. "Sie sehen uns jetzt als Partner und das ist vielleicht gut so", sagt er, "So können wir etwas bewirken."

Eigentlich wollte Dmitri nicht über Politik sprechen. Er spielt mit seinem Armband. Es ist ein Fitnessarmband, das jeden seiner Schritte aufzeichnet und sich meldet, wenn er sich zu wenig bewegt. Plötzlich hört er auf, damit zu spielen. "Hörst du das Lied?" Sein Gesicht hellt sich auf. Es ist ein Lied der Rockband Lyapis Trubeckoy. Ihre Musik ist in Weißrussland verboten. Besser gesagt ihre Texte. Dmitri summt mit. Vielleicht sind seine Landsleute doch nicht so apathisch. Vielleicht sieht ihr Widerstand nur anders aus. Leiser. Ohne Text. Und man muss nur genauer hinhören.

Solmaz Khorsand, geboren 1985, ist seit 2013 Redakteurin der "Wiener Zeitung" und arbeitet als Magazinjournalistin.