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Politologe hält Schaffung humanitärer Korridore für realistisch.
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"Wiener Zeitung": Der Iran wird nicht an der am Mittwoch in der Schweiz startenden Syrien-Friedenskonferenz teilnehmen. Macht die Veranstaltung dann überhaupt noch Sinn?
Julien Barnes-Dacey: Das ist sicher ein großer Rückschlag. Dennoch ist mit der Konferenz ein potenziell nützlicher Anfang gemacht. Das schon deshalb, weil die maßgeblichen Akteure und die Bürgerkriegs-Gegner zum ersten Mal an einem Tisch sitzen. Es wird das Tabu gebrochen, dass die syrischen Kontrahenten nicht miteinander reden.
Was wäre ein realistisches Ergebnis der Konferenz?
Es ist der Start eines Prozesses, der lange dauern wird. Die Erwartungen sind niedrig. Die Konferenzteilnehmer kommen mit völlig polarisierten Erwartungen zusammen, worüber eigentlich gesprochen werden soll. Wenn alles gut geht, dann werden die internationalen Akteure Druck auf die Kriegsgegner ausüben, humanitäre Korridore zuzulassen, um der Bevölkerung zu helfen. Aber die politischen Differenzen sind so groß, dass sicher noch ein langer Weg zu gehen sein wird.
Halten Sie die Einigung auf einen temporären Waffenstillstand, auch wenn er lokal begrenzt ist, für möglich?
Ja. Der Westen, der die Opposition stützt, und auch die Russen und Iraner sprechen von der Notwendigkeit, Raum für humanitäre Hilfe zu schaffen. Auch wenn die relevanten Mächte zerstritten sind, was den Modus des politischen Übergangs betrifft: Hier gibt es die gemeinsame Vision, das Leid der Zivilisten zu mildern. Das ist einer der ganz wenigen Bereiche, wo sich kurzfristig ein Erfolg einstellen könnte.
Die Voraussetzung für den Friedensgipfel ist aus Sicht Washingtons, dass Einigkeit herrscht, dass es eine von allen akzeptierte Übergangsregierung geben muss. Assad will sich aber wieder zum
Präsidenten küren lassen. Müsste er nicht wie der Iran von den
Verhandlungen ausgeschlossen werden?
Assad ist dem von Ihnen genannten Grundsatz nicht verpflichtet, aber auch die Russen haben völlig andere Vorstellungen als die USA. Für Moskau spielt Assad eine signifikante Rolle in der Übergangsperiode. Aber es ist klar: Das syrische Regime ist weiterhin stark, man muss es in die Überlegungen miteinbeziehen . . .
. . . und UN-Generalsekretär Ban Ki-moon weiß, dass man auch um den Iran nicht herumkommt, und wollte Teheran deshalb unbedingt mit an Bord haben . . .
Exakt. Und der iranische Standpunkt unterscheidet sich nicht allzu sehr vom russischen. Beide stehen schon lange hinter dem syrischen Regime und werden das auch weiter tun. Die Frage ist, wie man beide Länder dazu bringt, dass sie Druck auf Assad ausüben, damit er abtritt.
Wenn wir in die ferne Zukunft blicken. Was sind die möglichen Szenarien?
Zunächst werden die verfeindeten Kräfte kämpfen bis zur völligen Erschöpfung. Solange beide Seiten jeweils der Ansicht sind, dass sie gewinnen können - dieser Ansicht sind sie -, wird der Kampf weitergehen. Erst dann wird die Notwendigkeit gesehen werden, die Lösung am Verhandlungstisch zu suchen. Es könnte dann auf ein dezentralisiertes Syrien hinauslaufen, mit Regionen, die über starke Autonomie verfügen. Aber es wird lange dauern, bis wir dort angelangt sind. Es besteht das Risiko, dass Syrien bis dahin kollabiert ist, dass es zu einem völligen Zusammenbruch aller staatlicher Strukturen kommt.
Wann glauben Sie, wird er erreicht sein, dieser Zeitpunkt der völligen Erschöpfung?
Das kann Jahre dauern. So lange, bis die regionalen Mächte zur Ansicht gelangen, dass es zu einer Lösung kommen muss. Dieser Zeitpunkt ist meiner Ansicht noch fern. Bis dahin können die relevanten Mächte in der Region den Konflikt Jahr um Jahr weiter anheizen.
Wie groß ist eigentlich der Einfluss der syrischen Exil-Opposition, die zu den Gesprächen kommt?
Die hat in Syrien selbst relativ wenig Einfluss. Die Verbindung zwischen den kämpfenden Verbänden und der Exil-Opposition ist schwach ausgeprägt. Sie sind nicht sehr repräsentativ, was die gesamte Anti-Assad-Bewegung betrifft. Die Exil-Opposition ist stark unter dem Einfluss der regionalen Akteure, auch finanziell. Und die wollen die Opposition in die Richtung lenken, die ihnen jeweils entgegenkommt. Das ist höchst problematisch: Die Opposition ist weder repräsentativ noch agiert sie unabhängig.
Wie gefährlich ist die Situation für die gesamte Region? Kann es zur Explosion kommen?
Der Konflikt in Syrien ist Zündstoff für den Konflikt, den es im Libanon gibt. Das schaukelt sich Tag für Tag weiter auf.
Wird die Region zur neuen Brutstätte des Terrorismus, der auch den Westen gefährdet?
Extremisten haben sich dort schon eine Operationsbasis geschaffen. Vor allem der Norden Syriens ist zum Aufmarschgebiet für Jihadisten geworden. Diese Gruppen sorgen für die Verbreitung des Extremismus in der ganzen Region. Und es besteht die Gefahr, dass die Extremisten, die zum Teil aus Europa kommen - durch den Syrien-Krieg brutalisiert und ideologisch radikalisiert - nach Europa zurückkehren und hier Anschläge durchführen.
Julien Barnes-Dacey ist politischer Analyst der Denkfabrik European Council on Foreign Relations mit Sitz in London. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Mittlere Osten, Syrien, Libanon und Irak.