Ein altes Konzept gewinnt an Aktualität: Geldschleier und Geldumlauf in neuerer Betrachtung.
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François Quesnay (1694 bis 1774), Arzt am französischen Hof von König Ludwig XV. und Madame de Pompadour, Begründer der wirtschaftstheoretischen Lehre der Physiokratie (nur Natur liefere Netto-Erlös), hatte zwei Einsichten; diese sind heute zum Schaden des Wissens und der wirtschaftlichen Entwicklung kaum noch bekannt: Geld lege einen Schleier auf die wirtschaftlichen Vorgänge und Verhältnisse; und es sei ohne quantitative oder qualitative Veränderung im Umlauf.
Das war vor weit mehr als zwei Jahrhunderten. Neue wirtschaftstheoretische Ideen und Schulen traten auf, obwohl die heute dominierenden im Kern auch nicht mehr so neu sind: die währungspolitischen Lehren ("Neoliberalismus") nach Friedrich August von Hayek (1899 bis 1992) und die auf Erwerbsarbeit konzentrierten Ansichten ("Vollbeschäftigung") von John Maynard Keynes (1883 bis 1946).
Quesnay hatte mit seinem "Tableau économique" (1758) zur Verschleierung der realwirtschaftlichen Situation wesentlich beigetragen, indem er - als Arzt analog dem Blutkreislauf - den Wirtschaftskreislauf in Geldbeträgen darstellte: Seiner Ansicht nach schaffe allein die produktive Klasse - die Bauern - einen geldlichen "Reinertrag", von dem jeweils zwei Fünftel bei den Bauern verblieben beziehungsweise an die besitzende Klasse - den Adel - gingen; von diesen beiden Klassen bekomme je ein Fünftel die "unfruchtbare" Klasse - die Kaufleute -, sodass vom Adel ein Fünftel und von den Kaufleuten zwei Fünftel wieder an die Produzenten zurückflössen. Der Kreislauf könne von Neuem beginnen.
Neben dieser geldlichen Verschleierung der tatsächlichen sozio-ökonomischen Prozesse und Strukturen ist auch ein Zweites an Quesnays Darstellung bemerkenswert: Sie zeigt, dass Geld durch den Umlauf nicht verloren geht, sondern dass es, einem chemischen Katalysator gleich, lediglich Vorgänge auslöst. Die Geldausgabe einer Person bedeutet für eine andere eine Einnahme, wobei das eingenommene Geld gleich wieder unverändert ausgegeben werden kann. Läuft Geld mehrfach um, braucht es dementsprechend keine größere Geldmenge, um denselben Effekt bei Verkauf und Kauf von Waren zu erzielen.
Quesnay konnte noch nicht berücksichtigen, dass solch ein statisches Kreislaufmodell nach dem dynamischen Anstieg der industriellen Produktivität und damit der Menge an angebotenen Gütern und Diensten auch in Hinblick auf Geld anders gesehen werden muss: Soll das mit Geld betriebene Wirtschaftssystem funktionieren, müssen einerseits Geldmenge und Geldumlaufgeschwindigkeit auf Produktion, Distribution und Konsumation von Wirtschaftsleistungen (Gütern und Diensten) abgestimmt werden. Das wäre die hybride Aufgabe von Geld- und Wirtschaftspolitik.
Ermöglichte Nachfrageund kaufbare Leistungen
Andererseits müssten auch Bedarf, Leistungsvermögen und Geldverfügbarkeit bei Angebot und Nachfrage von Leistungen berücksichtigt werden. Denn die Angebots- und Nachfragestrukturen bestimmen das Wirtschaftswachstum (dieses wird heute noch, wie bei Quesnay, in Geld gemessen). Überdies gilt: Ungestillter Bedarf ohne ausreichende Geldverfügbarkeit schafft ebenso wenig Nachfrage wie gestillter Bedarf und gesicherte Geldverfügbarkeit.
Unbedingte Voraussetzung für den Ausgleich ist, dass der ermöglichten Nachfrage entsprechend kaufbare Leistungen gegenüberstehen. Das ist allerdings durch die ungeheure Ausweitung der Geldmenge durch die Zentralbanken nach den aktuellen Krisen am Beginn des 21. Jahrhunderts zu bezweifeln: Es war und ist sehr, sehr viel Geld im Umlauf.
Statt des Kaufs von Gütern und Diensten wurden mit den emittierten Geldmengen oft Finanzwerte gekauft, sodass die Finanzwelt (einschließlich der angeblich etwa 3.000 Kryptowährungen) gegenüber der Welt realer Leistungen schnell expandierte. Würden in dieser Situation Finanzwerte in größerer Anzahl in offizielle Währungen getauscht, um Waren zu kaufen, wäre mit steigenden Preisen zu rechnen. (Das war und ist in diesem Zeitraum bereits beim Kauf nicht nur von Immobilien mit der Folge steigender Mietpreise zu beobachten.)
Nun ist bei den industriell entwickelten Gesellschaften nicht nur wachsende Ungleichheit im Bedarf und in der Geldverfügbarkeit zu beobachten, sondern auch eine suboptimale Nutzung des Leistungsvermögens von arbeitswilligen Erwerbslosen und unterausgelasteten Betrieben. Hierfür ist eine weitgehend unbekannte Funktion neben den vielen bekannten Geldfunktionen (Mittel für Preismessung, Preisvergleich, Tausch, Zahlung, Wertübertragung und weitere) zu nennen: die Organisation gesellschaftlich erforderlicher Arbeit.
Die sinnvolle Nutzung dieser Funktion nahm in dem Maße zu, in dem durch die extrem gewordene Differenzierung der Arbeitsteilung und der Bezahlung von Arbeitskräften (stark ausgeweitet ab Beginn der Industrialisierung) nach und nach gekauft werden muss, was gewünscht oder gebraucht wird - und dazu braucht man Geld, es entstand die "Geldgesellschaft".
Definition von Geld durch Funktionen oder Wesen
An dieser Stelle soll eine wichtige Unterscheidung im Verständnis von Geld eingefügt werden: die Definition von Geld durch seine Funktionen (Gebrauchsarten) oder durch sein Wesen. Je nach bevorzugter Definition variieren die Vorstellungen von Geld und damit die Handlungsweisen des Geldgebrauchs. Bei der Forschungsfrage "Was ist Geld?" werden zumeist die synonym gemeinten Funktionen des Tausches und der Zahlung genannt. Das ist leicht erklärbar, weil Geld in diesen Funktionen wegen des alltäglichen Gebrauchs leicht verstehbar ist. Schwieriger ist das Verständnis, wenn Geld in seinem Wesen erklärt wird: "Geld ist ein in verschiedener Art objektiviertes, gesellschaftlich akzeptiertes Symbol für einen Leistungsanspruch beziehungsweise für ein Leistungsversprechen, dem Vertrauen entgegengebracht wird."
In dieser Definition sind zwei Begriffe besonders zu erklären: Symbol und Vertrauen. Ein Symbol ist ein kulturell verwendetes Zeichen für etwas anderes, folglich ein Verweis auf ein Objekt oder Verhältnis. So ist etwa die nationale Flagge ein Verweis auf die Nation; in diesem Verständnis werden nationale Flaggen verbrannt, um Hass gegen das symbolisierte Land auszudrücken. Im Geldgebrauch hingegen ist Vertrauen die Voraussetzung für den Verkauf eigener Leistungen gegen das Symbol, nämlich für das erhaltene Geld selbst etwas kaufen zu können. Diese grundlegende Bedeutung des Vertrauens in Geld zeigt die Prägung alter Münzen des Ordensstaates Malta aus dem 17. und 18. Jahrhundert: "Non aes sed fides" - Nicht das Metall (Gold, Silber, Kupfer) ist entscheidend, sondern Vertrauen.
Eine sehr nachdenkenswerte Konsequenz des Vertrauens auf den Wert von Geld ist: Wer Geld benötigt, kann gekauft werden, um Leistungen zu erbringen. Und Geld wird zum Kauf der nicht mehr selbst erarbeitbaren Leistungen benötigt; in gleichem Ausmaß stieg die gegenseitige Abhängigkeit zur Organisation des Lebens im Widerspruch zur angenommenen und verlangten individuellen Freiheit. Wer mit Geldreichtum kaufen kann, was gewünscht wird, übersieht die Abhängigkeit und fühlt sich frei: Beim Denken an Geld endet meist das Denken.
Möglicherweise würde mit der Zunahme der Bedeutung von Geld erkannt, dass Geld zu einem gesellschaftlichen Zwangsmittel geworden ist - in der bestehenden Geldgesellschaft muss ja fast alle Leistung bezahlt werden. Erst wenn man über Geld verfügt, kann man sich das Benötigte oder Gewünschte kaufen. Aus diesem Grund wird in Privathaushalten und Betrieben primär und häufig an Geld gedacht; was gekauft wird und wie es zustande kam, wird sekundär: Man hat gezahlt, und weiteres Nachdenken ist damit erledigt.
Leistungsvermögen zum Stillen von Bedürfnissen
Das auf Geld verengte Denken verhindert auch die Wahrnehmung eines anthropologisch gegebenen Zusammenhangs: Alle Menschen haben Bedürfnisse und - bis auf die Hilfsbedürftigen - auch ein Leistungsvermögen, um zu erarbeiten, was Bedürfnisse zu stillen vermag. Doch den Notleidenden wird gesagt, es sei zu wenig Geld vorhanden, um ihre Bedürfnisse zu stillen. Dabei haben viele von ihnen auch Leistungsvermögen. Aber ebenso wird entgegengehalten, es sei zu wenig Geld da, um sie zu beschäftigen.
Nach der Erkenntnis von Quesnay, dass dasselbe Geld mehrfach umlaufe, bedürfte es nur einer weiteren Erkenntnis: dass mit Geld als Instrument und mit kompetenter Organisation die erforderlichen Leistungen erarbeitet werden könnten. Die dadurch entstehenden Produkte und Services stellen den Gegenwert zum Geld dar, das damit sogar auch ohne weiteren Umlauf gedeckt wäre - das gesellschaftliche Vermögen wurde also erweitert. Das in diesem Prozess von den Banken vermehrt kreditierte Geld könnte nach und nach wieder eingezogen werden.
Denkbar ist, dass die Zentralbanken mit ihrer Geldflutung, der "Modernen Geldtheorie" folgend, diese generelle, weitere Geldfunktion zur Organisation des Leistungsvermögens von Wirtschaftssystemen im Auge hatten, aber nicht erklärt haben. Anscheinend sahen sie allerdings nicht voraus, dass ein Großteil der expandierten Geldmengen in der Finanzwelt eingesetzt wurde und damit zu stärkerer Nachfrage und höheren Kursen von Finanzwerten geführt hat. Deswegen konnte das jahrelang angestrebte Inflationsziel von etwa 2 Prozent nicht erreicht werden. Die Situation scheint sich aktuell zu ändern, da die Inflation zu steigen begonnen hat.
Wenn nicht erkannt wird, wie man mit Geld ungenutztes Leistungsvermögen konstruktiv und produktiv organisieren kann, dann wird eine andere Geldfunktion falsch wahrgenommen: Geld sei sehr praktisch, weil es die Komplexität der Welt reduziere. Doch in Wahrheit wird nicht die Komplexität der Welt reduziert, sondern das Denken über die Welt. Praktisch ist es ja in der Tat, sich das Nachdenken über Produktionsverhältnisse oder ungelöste Weltprobleme zu ersparen, indem man etwas bezahlt oder Hilfsorganisationen Geld spendet. Wiederum: "Beim Denken an Geld endet meist das Denken." Und wenn das so sein sollte, ist das nicht zuletzt auch François Quesnay zu verdanken, der eben den Wirtschaftsprozess lediglich als Geldumlauf darstellte.