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"Beim Klimawandel muss der Markt versagen"

Von Anja Stegmaier

Klimawandel

Umwelt- und Klimazerstörung sind für die Marktwirtschaft irrelevant, denn sie haben keinen Preis, sagt Stephan Schulmeister. Der Ökonom über das Erbe August Friedrich von Hayeks und die Gefahren marktkonformer Demokratien.


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Vor 120 Jahren wurde der Ökonom und neoliberale Vordenker August Friedrich von Hayek geboren. Das Vermächtnis des Nobelpreisträgers und Vertreters der Österreichischen Schule prägt nach wie vor liberales Denken - stößt aber an Grenzen. Der Ökonom Stephan Schulmeister würdigt Hayek im Interview mit der "Wiener Zeitung" kritisch.

"Wiener Zeitung": Sie gelten als linker Ökonom, was können Sie dem neoliberalen Hayek abgewinnen?Stephan Schulmeister: Ich schätze viele Gedanken von Hayek. Das ist einer der Gründe, warum ich mich - was die Ideologie betrifft - nicht als Linken bezeichnen würde. Weil Hayek zu Recht kritisiert, dass linke Philosophen und Gesellschaftswissenschafter zu einer konstruktivistischen - wie er es nannte - Weltverbesserung neigen, gewissermaßen nach großem Plan von Rousseau bis Mao. Dieses Verständnis gesellschaftlicher Prozesse ist mir fremd. Hayek hat in diesem Punkt recht, dass nachhaltige und erfolgreiche gesellschaftliche Veränderungen in kleinen Schritten, also evolutionär passieren. Allerdings geleitet von großen Zielen, Utopien im wörtlichen Sinne, wie soziale Gerechtigkeit oder gar "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit". Aber das sind nicht Orte der unmittelbaren Erreichbarkeit.

Und wo grenzen Sie sich ab?

Bei den Leitsternen, die er vor Augen hat, also der radikal liberalen Gesellschaft mit minimalem Staatseingriff. Meine Position war nie, dass es Aufgabe der Intellektuellen oder der Ökonomen sei, Generalstabspläne zu machen. Sondern in kleinen Schritten auf Basis der Erfahrung Dinge zum Besseren zu verändern. Das ist ein weiterer Punkt, in dem ich mich von Hayek unterscheide.

Inwiefern?

Das schrankenlose Privateigentum hat Hayek als Fundament einer liberalen Gesellschaft bezeichnet, das durch die Rechtsordnung geschützt werden muss. Aber darüber hinaus war er weder an einem wirtschaftspolitisch starken Staat, der etwa Konjunkturpolitik oder Vollbeschäftigungspolitik betreibt, interessiert noch an institutionellen Regelungen, die die Armut eingrenzen, etwa durch den Wohlfahrtsstaat oder ein sozialstaatliches Gesundheitssystem.

Warum ist Wohlfahrt bei Hayek eine Gefahr für Freiheit? Warum schließen sich soziale Gerechtigkeit und Wohlstand aus?

Hayek war ein origineller Denker, gleichzeitig hat er mit seinen Theorien durchgängig die Interessen derer, die vermögend sind, wissenschaftlich legitimiert. Wenn jemand sagt, der Sozialstaat ist deshalb schlecht, weil er die Freiheit des Individuums einschränkt, weil er die Menschen entmündigt oder bevormundet, dann ist das eine Argumentation, die fast gesellschaftsphilosophisch ist. Also, der Mensch ist nur ein Individuum und Gesellschaft ist lediglich eine Konstruktion linker Intellektueller. So wie das Hayek-Anhängerin Margaret Thatcher präzise auf den Punkt gebracht hat mit "there is no such thing as society". Das ist der argumentative Überbau. Die materiellen Interessen, die dadurch legitimiert werden, sind dann, möglichst wenig Steuern zu zahlen - und das entlastet besonders diejenigen, die hohe Einkommen haben.

Ist soziale Gerechtigkeit überhaupt ein Thema bei Hayek?

Mit dem Begriff hat sich Hayek sehr stark auseinandergesetzt. Der Begriff "sozial" ist für ihn ein sogenanntes Weaselword. Es bringt zum Ausdruck, dass ein Begriff keinen sinnvollen Inhalt besitzt, so, wie ein Wiesel ein Ei aussaugt - und am Ende bleibt die leere Hülle. Das Wort sozial ist ihm zutiefst zuwider gewesen. Natürlich hat er recht, dass eine klare Konkretisierung dieses Begriffes unmöglich ist. Das gilt aber auch für den Begriff der Freiheit. Dass noch nie ein Mensch in der Geschichte der Menschheit frei war, ist klar. Freiheit ist wie soziale Gerechtigkeit oder Gleichheit ein Leitstern, den man nicht erreichen kann. Der ist aber ganz wichtig für die Orientierung. Hayek hat recht, wenn er sagt, die Vorstellung vieler Linker, wir machen jetzt die ideale, die gerechte Gesellschaft, das sind unerreichbare Versprechungen, die zu autoritären Systemen verführen. Aber daraufhin das Kind mit dem Bad auszuschütten und zu sagen, in unserem Handeln brauchen wir solche Leitsterne gar nicht, ist für mich ein Unsinn. Und hat für mich auch mit der generellen Entmoralisierung des Neoliberalismus zu tun. Denn die ganz einfache Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?, ist unzulässig, verboten in dieser Weltanschauung, schließlich wird und soll uns "der Markt" führen.

Für wen ist Freiheit im Neoliberalismus?

Für Hayek ist Ungleichheit, unter dynamischen Aspekten, unter dem Aspekt der Entwicklung der Gesellschaft, etwas Gutes. Das ist auch eine Art Selektionsprozess. Da streift Hayek wie viele andere Liberale am Sozialdarwinismus an. Das liegt quasi in der Natur dieser Weltanschauung zu sagen, der Tüchtige setzt sich durch wie in der Natur - eine Fehlinterpretation von Darwin. Was man dabei unterschlägt, ist, dass Darwin genauso den Aspekt der Kooperation herausgearbeitet hat. Aber die Liberalen und die Neoliberalen haben diesen Selektionsmechanismus als etwas ganz Wichtiges erachtet, der die Gesellschaft weiterbringt.

Pflegeberufe oder unbezahlte Arbeit sind für die Gesellschaft sehr wichtig, werden aber nicht wertgeschätzt. Ungleichheit ist notwendig, um Wohlstand zu ermöglichen - das widerspricht doch dem Leitsatz "Leistung muss sich lohnen"...

Da hat die ökonomische Theorie Legitimationsmodelle bereit. Der Begriff Leistungsträger ist ja im Grunde nur die Popularisierung der Vorstellung aus der Gleichgewichtstheorie, dass jeder das verdient, was er verdient. Die Vorstellung ist, es gibt so etwas wie eine zusätzliche Produktivität. Und innerhalb dieser theoretischen Konstruktion ist klar, wenn ein Manager 300 Mal so viel verdient wie eine Altenpflegerin aus der Ost-Slowakei, dann ist eben der Beitrag des Managers zum Sozialprodukt 300 Mal so hoch. Das ist ein Zirkelschluss, man schließt aus dieser Ungleichheit, wenn jemand so viel verdient, muss er auch so gut sein. Die gesamte Gleichgewichtstheorie, die heute dominiert, die Hayek aber nur selektiv übernommen hat. Die läuft darauf hinaus, dass das was ist, gut ist.

Freiheit bedeutet Verantwortung. Für sich, aber auch für die Gesellschaft, für die Zukunft. Was hätte Hayek zur Bewegung "Fridays for Future" gesagt - Klima und Umwelt, öffentliche Güter, die staatlich geschützt gehören oder Ökodiktatur?

Innerhalb des Neoliberalismus müssen wir zwischen den Gleichgewichtstheoretikern, also dem, was heute überall auf der Welt dominiert, unterscheiden und Hayek, denn er ist in den Wirtschaftswissenschaften immer ein Außenseiter geblieben. Auf der Ebene der Wissenschaft ist klar, dass der Markt in Fragen der Umweltverschlechterung und des Klimawandels versagen muss.

Warum?

Ökonomische Aktivitäten verursachen soziale Kosten. Wenn jemand mit seinem Auto fährt, dann verursacht er private Kosten, für die er zahlen muss, z.B. Tanken. Die privaten Kosten gehen in Marktpreise ein. Aber die sozialen Kosten, auch externe Kosten genannt, die im System als Ganzes durch diese Aktivitäten verursacht werden, wie etwa die Emission von Treibhausgasen, werden in einer Marktwirtschaft nicht berücksichtigt. Das ist ein Marktversagen. Das geben fast alle Neoliberale auch zu. Aber: Es ist kein Zufall, dass Neoliberale die längste Zeit zu den Leugnern des Klimawandels gehört haben. Und wenn sie ihn nicht geleugnet haben, haben sie gesagt, er ist nicht menschengemacht. Und wenn sie sagen, na, er ist doch menschengemacht, dann haben sie die nächste Defensivposition eingenommen, man kann eh nichts dagegen machen. Und jetzt, nachdem die Probleme immer offenkundiger werden, müssen sie sich auch ein bisschen anpassen.

Die Politik kommt um das Thema nicht mehr herum. Bei der Position zu bleiben, hohe Steuern und ein umfangreicher Sozialstaat hindern die Wirtschaftsdynamik, ist schwierig. Schließlich gelang Ländern wie Norwegen der Umstieg auf alternative Antriebe durch starke politische Steuerung und sie sind wirtschaftlich erfolgreicher als Staaten mit niedrigeren Steuern und Ausgaben. Ist Hayek damit widerlegt?

Jetzt kommt der nächste intellektuelle Trick Hayeks, und der ist von elementarer Bedeutung. Er hat jede Überprüfung seiner Aussagen am Beispiel der Empirie prinzipiell abgelehnt. Er nennt das Apriorismus, das hat er von seinem Lehrer Ludwig von Mises übernommen und hat noch zusätzliche Begründungen nachgereicht, dass nämlich die ökonomische Realität einfach zu komplex sei, um sie als Grundlage einer Prüfung von Axiomen heranzuziehen. Das ist natürlich eine fundamentalistische Position, die die eigene Theorie gegen jede Kritik immunisiert. Denn wenn ich sage, mein Gedankengebäude ist logisch zwingend wahr, und weil es wahr ist, ist es irrelevant, wenn einzelne Beobachtungen mit den Erwartungen dieses Gedankengebäudes nicht übereinstimmen.

Also nach wie vor gilt: Ungleichheit und wenig Sozialstaat bringen die Wirtschaft in Schwung?Das Versprechen, wenn wir die Märkte nur liberalisieren, insbesondere die Finanzmärkte, wenn wir den Sozialstaat zurückfahren, dann wird eine viel dynamischere Gesellschaft und Entwicklung möglich sein, ist durch die empirische Evidenz der letzten 40 Jahre verhöhnt worden. Denn in Ländern, wo das am stärksten praktiziert wurde, etwa in Großbritannien und den USA, hat die Instabilität dramatisch zugenommen und die Ungleichheit unglaubliche Ausmaße erreicht. Und in den Ländern, die das relativ weniger gemacht haben, wie die skandinavischen Länder, schaut es viel besser aus. Diese neoliberalen Rezepte haben das Leben der meisten Menschen nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren verändert.

Wir diskutieren heute über Freiheit und denken an das nächste Schnitzel oder den Flug nach Mallorca. Was würde ein großer liberaler Denker wie Hayek dazu sagen?

Ich glaube nicht, dass Hayek über die aktuelle Debatte enttäuscht wäre. Er würde sagen: Wir Intellektuellen dürfen nicht so arrogant sein, den Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben. Freiheit bedeutet, wenn die Leute am Abend drei Stunden fernsehen und dazu zwei Flaschen Bier trinken wollen, dann ist das eben ihre Freiheit. Was an dieser Grundposition aber so naiv ist, ist, dass es die vielfältigen gesellschaftlichen Prozesse ausklammert, die Einfluss nehmen darauf, wie Lebensentwürfe entstehen.

Dahinter steht die Grundfrage: Darf der Mensch durch das System Politik die Gesellschaft verändern?

Diese Frage wurde, als ich ein junger Mensch war, in den 1950er, 60er Jahren ganz selbstverständlich mit "Ja" beantwortet. Es blieb ja nach 1945 nichts anderes über, als die Ärmel aufzukrempeln und zu sagen: Nach dieser Katastrophe schauen wir, dass das nie wieder passiert, und wir machen ein neues Europa, eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft, eine Union, einen Sozialstaat. Und die Basis eines solchen Handelns war Emanzipation und Aufklärung. Der Mensch darf über das System Politik und die parlamentarische Demokratie gesellschaftliche Prozesse mitgestalten. Und das ist der fundamentale Gegenangriffspunkt der neoliberalen Philosophie gewesen, die stattdessen die Vorstellung entwickelte, dass der Staat der Feind der Bürger ist. Das wird stark über die Steuer argumentiert. Der Staat zieht den Menschen das Geld aus der Tasche. Je weniger Staat, umso besser. Weil dann die Märkte die ökonomischen und letztlich auch die gesellschaftlichen Prozesse gestalten.

Trotz der Proteste junger Leute scheint in Politik und Gesellschaft die Meinung vorzuherrschen, so wie wir leben sei nun einmal alternativlos . . .

Man hat vor 50 Jahren nicht begriffen, dass diese Grundbotschaft, die viel Unterstützung bekam durch das Versagen der Planwirtschaft in den sogenannten sozialistischen Ländern, dass diese Liberalisierungswelle mit Entmündigung und Einschüchterung verknüpft ist. Letztlich so, wie es Thatcher auf den Punkt gebracht hat. Selbst Angela Merkel, eine vergleichsweise vernünftige Person aus meiner Sicht, spricht von "alternativlos". Selbst eine demokratisch gewählte Regierung, ein Parlament, muss sich "marktkonform" verhalten. Ja, was heißt denn das? Dahinter steckt eine Entmündigung und damit die Vermittlung einer Art Sachzwangdenken. Diese Protestbewegungen der Jungen, egal ob es vor zehn Jahren Occupy Wall Street oder jetzt Fridays for Future ist, sind, befürchte ich, verzweifelte Aufschreie gegen das Bestehende, aber ohne konkrete Gegenkonzepte. Was machen wir denn anders? Wie muss eine Welt ausschauen, in der der Klimawandel mit äußerster Konsequenz bekämpft wird? Das fehlt nach 50 Jahren Entmündigung.

Was macht diese Alternativlosigkeit mit den Menschen?

Das ist der wesentliche Grund für den Aufstieg des Rechtspopulismus, weil die Rechtspopulisten genau das versprechen: Wir können anders, wir räumen auf. Die sind ja in diesem Sinne anti-neoliberal, obwohl sie in den Inhalten ihrer Politik oft neoliberale Positionen vertreten. Aber sie täuschen vor, sie könnten diese Verunsicherung und die Zukunftsangst der Menschen überwinden, indem sie handeln. Das ist die Zeit der starken Männer.