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Die US-Demokraten werden ihre Präsidentschaftskandidaten Joe Biden und Kamala Harris nur virtuell krönen.
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Der Mann galt zeit seines Lebens als bescheiden; einer von denen, der die zweite Reihe nicht als Degradierung, sondern als Chance begriff. Selbst in den Sechzigerjahren, am Höhepunkt seines intellektuellen Einflusses auf die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, fühlte er sich in der Rolle des Ideengebers im Hintergrund wohler als am Podium.
Außerhalb der USA ist Benjamin Mays heute wohl genau deshalb wenig bekannt. Dabei war er es gewesen, der Sohn befreiter Sklaven, der es zum Professor des renommierten Morehouse College in Atlanta brachte und der einst einem Studenten namens Martin Luther King jr. jene Philosophie des zivilen, aber gewaltlosen Ungehorsams einpflanzte, die letzterer später einer Massenbewegung überstülpte. Selbst in seiner Heimat galt die Erinnerung an den 1984 verstorbenen Mays als weitgehend verblichen - bis er sich dieser Tage so überraschend wie plötzlich wieder in aller Munde befand.
Lediglich eine Minute Redezeit für Jungstar
Möglich macht’s Alexandria Ocasio-Cortez, Abgeordnete der Demokraten für den 14. Wahlbezirk von New York und Jungstar der Partei. Letztere begeht am Montag den Start ihres alle vier Jahre stattfindenden Parteitags; die sogenannte Convention, im Rahmen derer diesmal Joe Biden offiziell zum Präsidentschaftskandidaten und Kamala Harris zu seiner Stellvertreterin gekürt werden.
Ocasio-Cortez, bei der Basis so beliebt wie von der Partei-Nomenklatura skeptisch beäugt, twitterte im Vorfeld ein Gedicht Mays’, in dem es um die Zeit und ihren Wert geht: "Ich habe nur eine Minute / 60 Sekunden darin / Sie wurde mir aufgezwungen, ich habe sie nicht gewählt / Aber ich weiß, dass ich sie nutzen muss / Bezeugt es, wenn ich sie missbrauche / Leidet, wenn ich sie verliere / Es ist nur eine winzige Minute / Aber in ihr steckt eine Ewigkeit." Eine so gewürzte wie effektive Reaktion auf die buchstäblich nur eine Minute Redezeit, die die Organisatoren des Democratic National Committee (DNC) der einzigen Nachwuchshoffnung der Partei mit nationaler Strahlkraft bei der Convention zugestanden. Wegen der Coronavirus-Krise findet nämliche diesmal nur virtuell statt.
Alle Großveranstaltungen im eigentlich dafür vorgesehenen Austragungsort Milwaukee, Wisconsin, wurden abgesagt. Selbst Biden, der am Donnerstag als letzter Redner auftreten wird, wird die Nominierung seiner Partei zum Kandidaten fürs Weiße Haus von seinem Heimat-Bundesstaat Delaware aus annehmen. Aber so verständlich die Verschlankung der Convention auch ist, so offenbart die Rednerliste doch vor allem eines: die Beharrungskräfte der Führung der Partei.
Auch ein Republikaner wird zu Wort kommen
Ein Problem, das sich vom neoliberalen bis zum linken Flügel durchzieht. Denn als ob ein 77-jähriger Präsidentschaftskandidat nicht genug wäre, dürfen von Montag bis Donnerstag neben aktuellen Parteispitzen wie Nancy Pelosi (Mehrheitssprecherin im Repräsentantenhaus, 80) und Chuck Schumer (Minderheitssprecher im Senat, 69) unter anderem Ex-Präsident Bill Clinton (73) und Ex-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton (72), Ex-Außenminister John Kerry (76), sowie Bernie Sanders (Senator von Vermont, 78) Reden schwingen. Abgerundet wird die Runde durch den kaum jüngeren Republikaner John Kasich (68).
Der Ex-Gouverneur von Ohio hat Donald Trump noch nie leiden können, aber jetzt, wo er kein Amt mehr anstrebt, fällt der Widerstand halt doch um einiges leichter. Das Bild, das ein derartiges Line-up auf jüngere Wähler macht, ist den Demokraten offenbar egal; die Zitierung des Mays-Gedichtes durch Ocasio-Cortez klingt angesichts dieser geballten Ladung Pensionsreifer fast schon verzweifelt.
Ihre Parteifreunde verlassen sich derweil, ganz wie Joe Biden im Vorwahlkampf auch, ganz auf ihre einzigen verbliebenen Wunderwaffen: Zumindest wenn Jungspunde wie der 59-jährige Ex-Präsident Barack Obama und seine Frau Michelle (56) das Mikro in die Hand bekommen werden, sind hohe Zugriffszahlen im Internet - unter der Adresse www.demconvention.com - garantiert.