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Beim Pflücken im fernen Erdbeerland

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv

Die meisten sind 500 Kilometer mit dem Bus gekommen. Sie sind Erntehelfer aus Polen. Vor den Baracken werden sie ausgeladen, ein paar Wochen später wieder abgeholt. In der Zwischenzeit arbeiten sie bis zu zehn Stunden täglich, sieben Tage in der Woche, wenn es sein muss, weil die Früchte reif sind. Ständig gebückt oder auf allen vieren. Für ein Kilogramm Erdbeeren, das sie pflücken, erhalten sie 26 Cent, pro Tag manchmal nur fünf Euro. Wo genau sie sind, wussten am Anfang einige gar nicht: knappe zehn Kilometer von Wien entfernt.


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Gosia ist schon zum dritten Mal da. Doch heuer hat es sich nicht ausgezahlt. In drei Wochen wird sie vielleicht 200 Euro verdienen, 70 Euro zahlt sie für den Transport nach Raasdorf und zurück in ihre Stadt in der Nähe von Kolobrzeg, im Norden Polens. Wenigstens muss sie nicht auch noch den polnischen Arbeitsvermittler bezahlen, der von einigen Frauen hundert Euro kassiert hat.

In den Vorjahren hat Gosia beim Erdbeerpflücken auch 500 Euro verdient, da war das Wetter besser. "Dafür nimmt man die Umstände in Kauf", sagt sie. Die Umstände: Das sind dutzende Blechcontainer auf dem Betonhof des Betriebes Edlinger-Theuringer in Raasdorf. Bis zu 200 Menschen waren dort untergebracht, jeweils sechs in einem Container. Schaumgummi ersetzt die Matratzen auf den dreistöckigen Betten. Tische oder Stühle fehlen. Ein paar Ziegel, auf dem Gelände zusammengesucht, dienen als Sitz- oder Abstellmöglichkeit.

Manche Frauen haben Campingkocher mitgebracht und Konserven für mehrere Wochen. Für das Essen müssen sie selber sorgen, ebenso für Seife oder Klopapier. Mehr als hundert Frauen teilen sich fünf Toiletten und vier Duschen. Den Männern geht es nicht besser.

Jeden Morgen werden sie mit Bussen zu den Erdbeerfeldern gefahren, arbeiten bis sieben am Abend. Und selbst wenn sich jemand krank fühle, müsse er aufs Feld, erzählen die Frauen.

All das hat Elzbieta erst nach und nach erfahren. Seit zwanzig Jahren lebt sie mit ihrem Mann in Österreich. Bei einem Fahrradausflug ins Marchfeld ist die Polin auf die Gruppe der Erdbeerpflücker gestoßen, hat sich nach dem Preis des Obstes erkundigt. Eine junge Polin hat sie dann um Hilfe gebeten. "Sie wollte einen anderen Job, weil sie es nicht mehr aushielt. Einfach abreisen ging nicht: Die Pässe haben sie ihnen abgenommen." Damit sie nicht verloren oder gestohlen werden, werden die Dokumente weggesperrt, hieß es im Büro. Bevor die Frau nach zwei Wochen bei Elzbieta Zuflucht suchte, musste sie sich ihren Pass regelrecht erbetteln, Beschimpfungen und Drohungen seitens der Gruppenführer anhören, erzählte sie.

"Bedingungen spartanisch"

Elzbieta schaltete die Redaktion der in Wien erscheinenden Zeitschrift "Polonika" ein, die sich hauptsächlich an polnische Emigranten richtet. Als die Journalistin die stinkenden verstopften Toiletten und die überfluteten Waschräume sah, musste sie mit den Tränen kämpfen, beschreibt sie. "Polonika" kontaktierte die polnische Botschaft. Fünf Stunden dauerte der Besuch der Delegation. "Die Bedingungen sind spartanisch, aber die Menschen nehmen das in Kauf", bestätigt Botschaftsrat Jan Masalski: "Ich denke, dass ukrainische Erdbeerpflücker in Polen auch nicht unter besseren Umständen leben." Die Pässe können sich die Menschen jederzeit abholen, versicherte der Besitzer. Er wolle sich auch darum kümmern, dass die Gruppenführer, von denen einige die Erntehelfer "wie Untermenschen" behandelt hätten, zur Verantwortung gezogen werden, berichtet Masalski. Nach dem Besuch des Botschafters wurde das Klo so geputzt, dass es nach Zitronen roch, lacht Gosia.

Tausende pro Saison

"Zweifellos hätte Gott eine bessere Beere als die Erdbeere schaffen können ... aber ebenso zweifellos hat er es nicht getan", wird Izaak Walton auf Edlingers Homepage zitiert. Informationen über Preisverleihungen und die erst kürzlich begonnene Zusammenarbeit mit "Spar" sind zu finden. Unter welchen Bedingungen das Obst gepflückt wird, bleibt ausgelassen. Unangemeldete Besuche auf dem Betriebsgelände sind denn auch nicht erwünscht. "Unbefugtes Betreten von Privateigentum", wettert der Verwalter. Er droht, die Polizei zu holen, verlangt die Herausgabe des Films. "Die Menschen sind aber nicht Ihr Eigentum", sagt der Fotograf. Das lässt der Verwalter nicht gelten.

Spargel, Erdbeeren, Äpfel, Gurken, Weintrauben: Tausende Erntehelferinnen und -helfer werden jährlich in Österreich beschäftigt. Der überwiegende Teil von ihnen stammt aus osteuropäischen Staaten. Bis Mai wurde heuer 20.668 Saisonarbeitskräften für sechs Monate eine Beschäftigungsbewilligung erteilt, ebenso 3.091 Erntehelfern für sechs Wochen. Im Vorjahr waren es insgesamt 18.417 Erntehelfer. Das sind die legal Arbeitenden. Laut Bewilligung des AMS Gänserndorf erhalten die in Raasdorf beschäftigten Menschen 5,70 Euro in der Stunde, bei 20 Wochenstunden.

Bauern unter Druck

"Vergessens den Vertrag", braust Johannes Edlinger auf. Einen Stundenlohn zu zahlen, sei nicht realistisch. Wie ein Sklaventreiber schaut der Landwirt keineswegs aus. Und wenn er vom Anbau des Spargels und der Erdbeeren erzählt, ist ihm abzunehmen, dass er "Bauer mit Leib und Seele" ist. Doch auch ihm macht der Druck zu schaffen, unter den die landwirtschaftlichen Betriebe geraten sind. Die Abhängigkeit von großen Handelsketten und Konkurrenz - etwa aus Polen, das ebenfalls Obst nach Deutschland exportiert - seien nur zwei Faktoren. Dass sich der Produktanbau nicht mehr rentiere, lasse die Bauern sterben, klagt Edlinger. Allein in Raasdorf hätten zwei von vier Betrieben bereits geschlossen.

"Unter Bürobedingungen lassen sich keine Erdbeeren pflücken", argumentiert er. Wenn die Arbeit nicht mit einem Leistungsprinzip versehen wäre, bräuchte er weit mehr Beschäftigte. Er selbst bekomme für das Kilogramm Erdbeeren auch nur 70 Cent.

Über all das spricht Edlinger lieber als über die Arbeitsbedingungen seiner Beschäftigten. Die Vorwürfe findet er "unglaublich". Jeder sei angemeldet, medizinische Versorgung sei gewährleistet. Auch die Sache mit den Duschen sei nicht richtig. Es gebe mehr als vier. Wo, wie viele? "Ich bin nicht dazu da, die Duschen zu zählen", antwortet Edlinger.

"Ich finde es eine Frechheit von den Leuten, sich aufzuspielen", sagt der Landwirt. "Die könnten im Prinzip auch zu Hause bleiben." Doch sie wollen ja kommen und sich ihren Lebensunterhalt verdienen, allein heuer habe es 500 Anmeldungen gegeben. "Es ist mühsame Erntearbeit, und manche kommen mit falschen Vorstellungen daher." Und auch wenn 95 Prozent der Leute zufrieden seien - bei so vielen Menschen gebe es immer Probleme. Aber dass jemand zum Ernten gezwungen werden solle, wenn er sich krank fühle? "Der hat wahrscheinlich nicht arbeiten wollen, weil er besoffen von gestern war."

Ola kann die Aussagen ihres Arbeitgebers nur bestätigen. "Wir sind ja nicht zum Urlaub da", sagt die resolute Frau. Seit Jahren komme sie hierher - und wenn sie nicht zufrieden wäre, warum sollte sie es dann tun? Die Berichte ihrer Kolleginnen empören sie. Selbstverständlich sei es ein harter Job, aber wer mehr arbeitet, verdient auch mehr. Und um Sauberkeit in den Waschanlagen müssen sich die Menschen halt selber kümmern: Das müssten sie zu Hause ja auch machen. "Bloß weil ein paar Leuten etwas nicht passt, bringen sie Unruhe hinein", ist Ola wütend.

Wie eine Aufwieglerin wirkt Gosia jedoch nicht. Auch nicht Marta oder Dorota. Klar seien sie freiwillig hergekommen, räumen die Frauen ein. Sie brauche doch das Geld, sagt Dorota leise. Die 19-Jährige kommt wie die meisten Erntehelfer in Raasdorf aus Südpolen, wo die Arbeitslosigkeit bis zu 30 Prozent beträgt. In Krakau studiert sie Kunstgeschichte, das muss sie finanzieren. "Ein Bekannter hat mir vom Erdbeerpflücken in Österreich erzählt. Es war nicht schwierig, reinzukommen", berichtet Dorota: "Wenn du willst, dann holt dich der Bus sogar vor der Haustür ab."

Geld sparen für zu Hause

Die Erfahrenen stellen ihre Anträge auf Beschäftigung bei den Landwirten selbst und verlassen sich nicht auf Vermittler, die für ihre Dienste zusätzlich kassieren. Doch Kosten entstehen allen Erntehelfern - für den Transport, für das Essen, für Klopapier. Dabei versuchen sie, so wenig Geld wie möglich auszugeben. Konserven haben sie mitgebracht, das Brot liefert ein fliegender slowakischer Händler mit seinem Kombi.

Die 45-jährige Marta hat sich sogar verschuldet, um hierher zu kommen. Sie hat von einem Nachbarn 100 Euro für die Reise ausgeborgt. Ihr Mann verdient 200 Euro im Monat, sie haben vier Kinder. Nun steht die Hochzeit einer Tochter bevor, für die es kein Geld gibt. Marta selbst ist seit Jahren arbeitslos. Im südpolnischen Andrychowo hatte sie einen Job als Näherin. Die Fabrik beschäftigte einst 6.000 Menschen, jetzt sind es nur noch 700. "Früher hast du bei uns in der Früh nur mit Mühe über die Straße gehen können", erinnert sich Marta. "Alle waren zur Arbeit unterwegs. Jetzt sind kaum noch Menschen um diese Zeit zu sehen. Es gibt keine Jobs."

Ob sie nächstes Jahr wieder kommen, wissen Gosia, Dorota und Marta noch nicht. Vielleicht finden sie Arbeit in Deutschland? "Andererseits", wendet Gosia beim Weggehen ein: "Als ich das erste Mal hier war, sagte mir eine Frau, dass sie sicher nie mehr kommen würde. Im darauf folgenden Jahr haben wir uns wieder vor dem Container begrüßt."