Zum Hauptinhalt springen

Beinahe wie in einem Hotel

Von Antje Stiebitz

Reflexionen

An der Charité in Berlin arbeiten Experten an der Intensivstation der Zukunft, die den Bedürfnissen der Patienten besser gerecht werden soll als die herkömmlichen Einrichtungen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Wir wollen eine Intensivstation, die die Angst und Hilflosigkeit der Patienten mildert."
© Peitz 2013/Charité

Claudia Spies fordert eine Intensivstation der anderen Art. Drei Jahre lang diskutierte die Leiterin des Charité Centrums für Anästhesiologie, OP-Management und Intensivmedizin unermüdlich und leistete Überzeugungsarbeit. Dabei ging es immer wieder um die Frage: Lässt sich der Heilungsprozess der Patienten durch Wohlgefühl beschleunigen? Zwei weitere Jahre suchte die lebhafte Professorin nach Geldgebern für ihr ungewöhnliches Forschungsprojekt.

Ihre Hartnäckigkeit zahlte sich aus. Denn inzwischen liegen im Weddinger Virchow Klinikum die Patienten auf der "Intensivstation der Zukunft".

Doch warum hadert Spies mit der herkömmlichen Intensivsta- tion? Das Licht ist trüb, die Wände sind kahl und die medizinische Überwachungstechnik dominiert lautstark. Bis zu 95 Dezibel kann der Lärmpegel betragen. Ab 45 Dezibel gilt Lärm als Stressfaktor. Der Krach, das künstliche Licht - beide stören den Schlaf-Wach-Rhythmus der Patienten. Ein Mensch, der nicht schläft, kann nicht gesunden. Deshalb führt man den heilsamen Schlaf durch Schlafmittel herbei. Allerdings steigern die Medikamente die Gefahr eines Deliriums. Ein stressiger Teufelskreis für die Patienten.

Deshalb erklärt Spies: "Wir wollten endlich eine Intensivsta-tion, die die Angst und Hilflosigkeit der Patienten mindert." Mehr noch: "Eine Einrichtung, die Bedürfnisse der Patienten berücksichtigt und ihnen das Gefühl des Ausgeliefertseins erspart."

Patientenperspektive

Dieses neuartige Interieur entwickelte ein Team aus Medizinern, Architekten und Mediengestaltern. Über einen Zeitraum von zwei Jahren trafen sie sich regelmäßig und nahmen von Anfang an die Patientenperspektive ein, legten sich selbst auf Krankenbett und diskutierten interdisziplinär über ihre Eindrücke und Ideen. Sie befragten das Pflegepersonal nach ihren Arbeitsabläufen. Jedes Detail fand Beachtung. "Man hat festgestellt, dass Kinder gerne zum Zahnarzt gehen, wenn die Praxis entsprechend gestaltet ist. Also war es unser Ziel, die Intensivstation positiv in Szene zu setzen. Wir ließen uns eher von der Idee eines Hotels leiten, in dem man sich wohlfühlt. From hospital to hospitality!" erklärt Annette Finke vom Architekturbüro Graft.

Das Ergebnis beindruckt: Die Wände sind nussbraun mit Holzmaserung, der Fußboden ist ebenfalls dunkel, in Aubergine. Beides soll Wärme und Geborgenheit vermitteln. Hinter der Vertäfelung verschwunden: die Überwachungstechnik. Die doppelte Wand schluckt die Geräusche, dämpft sie. Das Zimmer strahlt Ruhe aus. Ein Regal teilt das Doppelzimmer, schenkt jedem Bettplatz etwas Privatsphäre.

Über jedem Bett befindet sich eine Lichtdecke, ,2,40 mal 7 Meter, die den Patienten "umhüllt". In hellem Gelb zaubert er jeden Morgen die Sonne an den Himmel und lässt sie abends wieder untergehen. So soll der natürliche Schlaf-Wach-Rhythmus des Patienten unterstützt werden.

Außerdem taucht der Baldachin-Screen die Patienten in weiche Farben, imitiert ein schützendes Blättermeer, changiert zwischen grün und blau. Im Bett, zwei große Augen, die Patientin Petra Voss frisch operiert, stumm. "Es gibt Studien, die belegen, dass Patienten, die in einen grünen Garten blickten, zufriedener sind. Die Farbe Grün hat eine schmerzlindernde Wirkung, dadurch können wir Schmerzmedikamente reduzieren. Und das wiederum kann die Symptome von Delirien und Atemdepression verringern", erläutert der Mediziner Alawi Lütz.

Der Lichthimmel dient zusätzlich noch als eine Art Spielkonsole. Über einen Tabletcomputer bewegen die Patienten auf dem Screen Lichtpunkte hin und her. "Auf diese Weise können die Patienten ihre Motorik und Konzen-tration anregen", erklärt Jing He von den Mediendesignern Art+Com.

Koma oder Aktivität?

Claudia Spies erinnert daran, dass man erst um die Jahrtausendwende erkannte, dass medikamentös herbeigeführte Komata schwere Schäden hervorrufen. Den Patienten schwinden im Koma die Muskeln, mit dem Erwachen müssen sie das Essen erst wieder lernen, und die Entwöhnung vom Atmungsgerät ist langwierig. Häufig gehören Konzen-trationsschwächen zu den Langzeitfolgen. "Als ich um das Jahr 2000 wache und aktive Patienten gefordert habe, bin ich fast gesteinigt worden. Weil alle, ob Pfleger oder Ärzte, Angst vor der Veränderung hatten."

Allerdings, so Spies, würden die wachen Patienten für die Intensivpflege neue Probleme aufwerfen. "Einmal hat ein Patient zu mir gesagt, dass er sich so langweile, dass er die Löcher an der Wand zählt." Das habe sie sehr nachdenklich gemacht. Jing He wirft ein: "Jetzt können die Patienten durch den Lichthimmel auf spielerische Weise ihre Aufmerksamkeit trainieren und nebenbei sogar noch die SMS-Grüße ihrer Angehörigen lesen."

Im Vorraum zum "Intensivzimmer der Zukunft" geht es unruhig zu. Pflegepersonal und Ärzte eilen hin und her, tauschen sich kurz aus. Monique Schieler arbeitet seit 15 Jahren als Intensivpflegerin und findet die Arbeit auf der neuen Station aufregend. "Wir müssen vorausschauender arbeiten, mehr planen. Die Zimmer werden anders befüllt, dadurch sind die Arbeitsprozesse ritualisierter." Sie schüttelt ihre dunklen Locken und fügt an: "Aber die Patienten haben hier mehr Ruhe - und das ist gut für ihren Genesungsprozess."

Die dunkle Farbgebung der Räume soll Wärme und Geborgenheit vermitteln.
© Peitz 2013/Charité

Für die Reinigungskräfte bedeuten die zwei neuen Intensivzimmer keinen Mehraufwand. "Natürlich haben wir bei unseren Treffen auch die Krankenhaushygiene mit ins Boot geholt. Unsere Ideen müssen auch den Anforderungen der Sterilität standhalten", erklärt Annette Finke. So musste etwa getestet werden, ob die Oberfläche der Möbelbauplatten den Hygienevorschriften standhalten.

18 Monate Testphase

Jetzt fehlen nur noch die wissenschaftlichen Beweise: 18 Monate beobachten und dokumentieren Mediziner, Psychologen und Schlafforscher der Charité das einzigartige Pilotprojekt. "Wir untersuchen, inwieweit die Raumatmosphäre in den neuen Zimmern Einfluss auf den Heilungsprozess der Patienten nimmt", erklärt Alawi Lütz. Beachtet würden dabei: die Liegezeiten, die Häufigkeit von Delirien, der Schlaf- und Schmerzmittelverbrauch und die Langzeitfolgen. Weisen die Wissenschafter nach, dass die Wohlfühl-Faktoren direkt auf Angstgefühle und Schmerzempfinden wirken, könnten diese Erkenntnisse künftig bei der Umgestaltung und beim Neubau von Krankenhäusern eine wichtige Rolle spielen. "Für die Intensivmedizin sind die neuen Zimmer ein Meilenstein", ist Spies überzeugt.

Ist dieser Meilenstein auch finanzierbar? "Uns ist klar, dass dieses Intensivzimmer nicht teurer sein darf als ein herkömmliches Zimmer. Sonst kann es keinen Erfolg haben", kommentiert die Architektin Annette Finke. Doch im Moment sei es noch schwierig, ein Preisschild ans neue Intensivzimmer zu hängen. "Wir betrachten unser Engagement alle als eine Investition in die Zukunft. An den genauen Zahlen arbeiten wir noch."

Exakte Ziffern gibt es bisher nur vom Bundeswirtschaftsministerium. Ihm war die Entwicklung des Forschungsprojekts eine Million Euro wert. Alle weiteren Ausgaben haben die privaten Partner übernommen. Die Entwicklungskosten, so argumentiert das Architekturbüro Graft, seien natürlich hoch. Das liege vor allem an der aufwendigen Detailarbeit. Doch in Serie produziert, seien die Kosten durchaus realistisch.

Antje Stiebitz lebt als freie Journalistin in Berlin und schreibt Interviews, Por-träts, Reportagen und Buchbesprechungen.