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Wirtschaftlich wie politisch entwickelt | die Türkei Alternativen zur EU-Aufnahme.
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Istanbul/Brüssel. Es ist nicht nur eine schwierige, sondern fast auch schon eine unendliche Geschichte. Mehr als 50 Jahre ist es her, dass die Türkei zum ersten Mal um den Beitritt zur Europäischen Union (die damals freilich noch die EG war) angesucht hat. Offiziellen Kandidaten-Status erhielt man allerdings erst 1999 und auch seitdem gehen die von vielen Ressentiments geprägten Verhandlungen nur äußert schleppend vor sich. Von den 35 Beitrittskapiteln ist erst ein einziges abgeschlossen. Seit Donnerstag scheint der EU-Beitritt der EU aber noch einmal ein Stück weiter in die Ferne gerückt. Als Reaktion auf den mit aller Härte geführten Polizeieinsatz gegen die Demonstranten am Taksim-Platz hat Deutschland angekündigt, der Eröffnung eines weiteren Verhandlungskapitels am Mittwoch nicht zustimmen zu wollen.
In der Türkei reagierte man vordergründig empfindlich. Doch zwischen gekränktem Stolz und verbalen Retourkutschen gegen Deutschland schwingt auch noch eine ganz andere Botschaft mit, die das neue Selbstbewusstsein Ankaras illustriert. In Wahrheit brauche Europa die Türkei und nicht die Türkei Europa, erklärte etwa EU-Minister Egemen Bagis am Freitag.
In wirtschaftlicher Hinsicht scheint das 76 Millionen Einwohner zählende Land tatsächlich immer weniger auf eine Mitgliedschaft im Klub der christlichen Europäer angewiesen. Zwar liegt der Hauptmarkt sowohl bei den Exporten wie auch bei den Importen nach wie vor in Europa, doch im Zuge des wirtschaftlichen Booms der vergangenen Jahre wurden auch die Wirtschaftsbeziehungen in den Nahen Osten und in den Maghreb massiv ausgeweitet. In vielen afrikanischen Ländern wurden Botschaften neu eröffnet und Ausfuhren nach Libyen, Marokko oder in den Irak machen mittlerweile einen stark wachsenden Anteil an der Gesamtmenge aus. Und im Gegensatz zur mit steten Konjunktursorgen kämpfenden EU, mit der man ohnehin seit Mitte der 1990er über eine Zollunion verbunden ist, zeigt die Nachfragekurve bei den neuen Handelspartnern steil nach oben. "Im Bereich der Wirtschaft sind die Einflüsse einer politischen Verschlechterung wohl am geringsten", sagt Ekrem Eddy Güzeldere, Analyst bei der Denkfabrik ESI (European Stability Initiative). "Ich glaube nicht, dass europäische Direktinvestitionen und Wirtschaftskooperationen entscheidend mit dem politischen Prozess zusammenhängen."
Rolle als Regionalmacht
Doch nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht ist Europa längst nicht mehr die einzige Perspektive. Bis vor ein paar Jahren hätte man auch in der herrschenden AKP den Beitritt als Ritterschlag des eigenen Regierungsprojekts angesehen und dementsprechend eifrig Reformen umgesetzt, sagt Güzeldere. "Mittlerweile gefällt sich die türkische Führung aber sehr in der Rolle als Regionalmacht und Global Player und man kann langsam bezweifeln, ob der Beitritt für sie noch so wesentlich ist." Dennoch hält der seit Jahren in Istanbul lebende Analyst eine Beitrittsperspektive für wichtig. So seien in den vergangenen zehn Jahren im Zuge der EU-Harmoniserungsprojekte zentrale Reformen wie etwa ein neues Straf- und Zivilrecht verwirklicht worden. "Diese Rolle könnte die EU natürlich auch in den kommenden zehn Jahren spielen", sagt Güzeldere. "Wenn die Beitrittsverhandlungen gestoppt werden, ist das für die Demokratisierung der Türkei sicher nicht positiv."