Falls der Vertrag von Lissabon in Kraft treten sollte, muss die EU der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten. Das wirft eine Reihe juristischer Probleme auf.
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Die im Schoß des Europarates ausgearbeitete und am 4. November 1950 unterzeichnete Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist ein völkerrechtlicher Vertrag zum Schutz der in ihr verbürgten Menschenrechte und Grundfreiheiten gegen hoheitliche Eingriffe seitens der Mitgliedstaaten.
Die in der EMRK verankerten insgesamt zwölf materiellen Menschenrechte schützen daher nur gegen Übergriffe staatlicher Gewalt, nicht aber anderer hoheitlicher Gewalten wie zum Beispiel der Verbandsgewalt Internationaler Organisationen.
Diese Überlegung, dass die Verbandsgewalt Internationaler Organisationen schon rein technisch nicht in der Lage ist, Grund- und Menschenrechte zu verletzen, war unter der Vorherrschaft bloß intergouvernementaler Organisationen wie zum Beispiel der UNO oder des Europarates unbestritten.
Verbandsgewalt
Mit dem Aufkommen supranationaler Organisationen wie der Europäischen Gemeinschaften (EGKS, EWG und EAG) begann sich aber das Blatt zu wenden.
Je größer sich die Eingriffstiefe der Verbandsgewalt in grundrechtsgeschützte Bereiche von physischen und juristischen Personen im Zuge der fortschreitenden Integration ausgestaltete, desto lauter wurden in den Europäischen Gemeinschaften (EG) und der späteren Europäischen Union (EU) die Rufe nach einem Grund- und Menschenrechtsschutz nach dem Vorbild der EMRK.
Die EMRK selbst konnte vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) als Kontrollmaßstab der Verbandsgewalt deswegen nicht herangezogen werden, da die EG ja nicht Vertragspartner der EMRK ist. Der EuGH ging daher zunächst den Umweg über die allgemeinen Rechtsgrundsätze der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, in die die EMRK ja inkorporiert worden war.
In seinem Gutachten 2/94 aus dem Jahre 1996 verneinte der EuGH aber die Möglichkeit eines Beitritts der Europäischen Gemeinschaft zur EMRK - zum einen unter Verweis auf die fehlende Kompetenz der Gemeinschaft zum Beitritt und zum anderen mit dem Argument, dass ein solcher Beitritt grundlegende Auswirkungen auf das Recht der Gemeinschaft hätte und von "verfassungsrechtlicher Dimension" wäre.
Pflicht zum Beitritt
Diese restriktive Schauweise wurde in der Folge durch den am 29.Oktober 2004 unterzeichneten Verfassungs-Vertrag behoben, der in seinem Artikel I-9 Absatz 2 erstmals einen verpflichtenden Beitritt der EU zur EMRK statuierte. Nach dem Scheitern des Verfassungs-Vertrages übernahm auch der Reformvertrag beziehungsweise der Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 diese Pflicht zum Beitritt der EU zur EMRK und verankerte sie im Artikel 6 Absatz 2 EU-Vertrag in Verbindung mit dem Protokoll Nr. 8.
Um korrespondierend auch seitens der EMRK den Beitritt der EU zu ermöglichen, wurde durch das Protokoll Nr. 14 zur EMRK dem Artikel 59 der EMRK ein Absatz 2 hinzugefügt, der Folgendes bestimmt: "Die Europäische Union kann dieser Konvention beitreten".
Diese Beitrittsoption wird allerdings neu gefasst werden müssen, da das Protokoll Nr. 14 zwar bereits von 46 der 47 Mitgliedstaaten des Europarates beziehungsweise der EMRK ratifiziert wurde, von Russland bisher aber nicht. Auch die Satzung des Europarates müsste für den Beitritt der EU zur EMRK geöffnet werden, da nach Artikel 59 Absatz 1 EMRK diese nur Mitgliedern des Europarates offen steht.
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